Russische Kunst 1990 Seite 4


Hannelore Fobo über russische Kunst und anderes. Die Fragen stellte Allen Tager
Der Text wurde in russischer Sprache 2010 gekürzt veröffentlicht im Allen Tagers Buch «В будущее возьмут не всех»


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• • • Evgenij Kozlov «Die Neue Klassik», Timur Novikov «Neuer Russischer Klassizismus» • • •

 Еvgenij Kozlov «Die Liebe zum Schönen» , 2 х 3m, Leinwand, Öl, 1990 aus dem Zyklus «Die Neue Klassik»

Еvgenij Kozlov
«Die Liebe zum Schönen» , 2 х 3m, Leinwand, Öl, 1990
aus dem Zyklus
«Die Neue Klassik»
Ich komme noch einmal zum Thema der Ästhetik der Form zurück. Hier ist die Bemerkung wichtig, dass Evgenij im Grunde genommen die äußere Form von vorneherein als «klassisch» auffasst, und so sieht er keine Veranlassung, sich auf irgendeinen Stil zu beschränken. Darüber ist Ausführlicheres zu lesen in unserem Gespräch «Die Kunst der Zukunft» von 1991. Timur seinerseits begann, mit der Suche nach dem Schönen ausschließlich den akademischen, das heißt, traditionellen Stil in Betracht zu ziehen. Während der Konferenz mit dem Titel «Jugend und Schönheit» im Leningrader Haus der Wissenschaftler Ende Juni 1990 sprach er von der «Abwesenheit des Begriffs der Schönheit in der Gegenwartskunst». Aber im Mai desselben Jahres hatte ich im «Russkoee Polee» ein Bild von Evgenij im Format 2 x 3m mit dem Titel «Die Liebe zum Schönen» gesehen. Es ist Teil seines Zyklus’ «Die Neue Klassik», den er 1989 begann, und in dem er stilistische Mittel vom Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts verwendete: grafische Formen mit glatten Kanten, klare und reine Farbkontraste der Elemente. Das Thema des Bildes ist «Die Liebe zum Schönen» oder auch «Wunderbaren»: eine männliche Figur, die auf einen Vogel blickt, welcher im Aufflug begriffen ist von einen Stein oder Amboss / Haus / Felsen in Richtung eines gelben Kreises, der einer Sonne ähnelt. Es ist eine Figur, die aus Liebe und für die Liebe schafft, und dadurch entsteht das Schöne, das heißt Geistige. Die Figur selbst ist schön, und das Bild ist vom Künstler aus der Liebe zum Schönen und dank des Schönen geschaffen

Man kann also sagen, dass die Suche nach dem Schönen mit dem Ziel, das Geistige in der Welt zu retten, sowohl bei Timur existierte als auch bei Evgenij existiert, aber 1990 haben die beiden zwei scharf von einander abgegrenzte Wege beschritten: Timur den Weg des «Neuen Russischen Klassizismus’» und Evgenij den der «Neuen Klassik». Timur gründete die «Neue Akademie» zur Verteidigung des Schönen und benutzte hierfür zeichenhafte Symbole der Vergangenheit, wie Oscar Wilde oder Apoll, das heißt, er ließ die seiner Meinung nach verlorenen Formen des Klassizismus wieder auferstehen. Hingegen drückt die «Neue Klassik» Evgenijs den Wunsch aus, dem klassischen Thema der Liebe einen neuen Sinn in der bildenden Kunst zu verleihen. Es wäre verfehlt zu sagen, dass in diesem Zyklus die Formen neu sind, aber der Sinn ist neu – die Gestaltung eines neuen Zusammenhangs der «handelnden Elemente». Das ist auch der Grund dafür, dass sich der Künstler einer bereits eingeführten Formensprache bedient hat, um auf dieser Grundlage einen neuen Inhalt zu erarbeiten. Wenn die Liebe das Leitmotiv des Zyklus’ ist, so ist jede der sieben Arbeiten durch eine der Farben des Regenbogens bestimmt. «Die Liebe zur Frau» durch gelb, «Die Liebe zum Mann» durch rot, «Die Liebe zum Kosmos» dunkelblau, «Die Liebe zum Schönen» hellblau, «Die Liebe zu Erde» grün, «Die Liebe zur Arbeit» orange. «Die Liebe zum Schönen» und «Die Liebe zur Erde» existieren in jeweils zwei Varianten, und die siebte und letzte Arbeit des Zyklus’, «Die Liebe zu Gott» mit violettem Grundton, konnte Evgenij nicht fertigstellen. Es kam zu einem Konflikt mit der äußeren Welt, der seine innere Ruhe zerstörte. Deshalb blieb der Zyklus unvollendet.


Еvgenij Kozlov «Die Liebe zur Arbeit» , 2 х 3m, Leinwand, Öl, 1990 aus dem Zyklus «Die Neue Klassik»

Evgenij Kozlov
«Die Liebe zur Arbeit» , 2 х 3m, Leinwand, Öl, 1990
aus dem Zyklus
«Die Neue Klassik»

Еvgenij Kozlov «Die Liebe zum Kosmos» , 2 х 3m, Leinwand, Öl, 1990 aus dem Zyklus «Die Neue Klassik»

Evgenij Kozlov
«Die Liebe zum Kosmos» , 2 х 3m, Leinwand, Öl, 1990
aus dem Zyklus
«Die Neue Klassik»

Wenn ich von einem neuen Sinn spreche, so meine ich die Entwicklung der Idee der «Liebe» in Bezug auf die bildende Kunst. Sie zeigt sich in der gegenseitigen Einwirkung der Figuren und Formen, welche jeder einzelnen Komposition eine neue, spezifische Dynamik verleiht. Nicht die Liebe als sentimentale oder träumerische Nostalgie, sondern als mächtiger schöpferischer Impuls zum Handeln. Ich komme noch einmal auf das Gemälde «Die Liebe zum Schönen» zurück. In ihm wird die Wahrnehmung einer Perspektive hervorgerufen, einer vorderen und hinteren Ebene, aber nicht so, dass die Gegenstände mit der Entfernung proportional verkleinert werden, sondern vielmehr mit dem Prinzip der Überlagerung und Durchdringung der Formen, welche farblich voneinander abgesetzt sind. Rechts kontrastiert die blaue Figur mit der schwarzen Form, vor deren Hintergrund sie sich abhebt, wohl eine Rakete im Profil, und links erhebt sich der schwarze Vogel vor einem blauen Hintergrund. Auf diese Weise gibt es im Zentrum des Bildes, und zwar entlang einer leicht diagonal von oben nach unten verlaufenden«Linie» eine Inversion, eine Umlagerung des Vorder- bzw. Hintergrundes, aber diese ist kaum bemerkbar, denn das Blau hinter der schwarzen «Rakete» durchdringt diese bis in die blaue Figur hinein, und das Schwarz der «Rakete» wiederholt sich auch in den schwarzen Schatten der Kleidung der Figur. Das hat den Effekt, dass die Figur wie durchsichtig, wie durchdrungen wirkt, wie ein Spiegelbild im Wasser, und dass die verschiedenen Ebenen der Komposition - Hintergrund, «Rakete», Figur, Schatten - schwerelos in der Luft zu hängen scheinen.

Für die Differenzierung der Kompositionsebenen sind jedoch auch die anderen farbigen Elemente sehr wichtig: das rote Feuer, der gelb Kreis der weit entfernten «Sonne» und rote Elemente, die noch weiter entfernt sind, die weiße Hand der Figur, welche die Ebene festlegt, die sich dem Betrachter am nächsten befindet, der weiße Stern hinter dem Vogel, der diesen vom Hintergrund trennt. Es gibt eine weitere interessante, aber für mich nicht aufzulösende Komponente in der rechten oberen Ecke des Bildes: einen roten Kreis, in etwa so groß wie die «Sonne». Im Zusammenhang mit anderen roten, gelben, grünen und weißen Elementen bauen diese Komponenten zusätzliche Ebenenschichten auf. Insgesamt jedoch wird diese Stratifikation der Ebenen als zusammengestauchter dreidimensionaler Raum wahrgenommen, der keine große Tiefe hat. Er konzentriert sich auf den Bereich über und unter dem aufgemalten roten Rahmen, der das Gemälde wie ein Band einfasst. Die Formen am Rand der Komposition befinden sich entlang dieses Bandes oder quer dazu, sie liegen darüber oder überschneiden sie.

Das Thema der «Liebe zum Schönen» ist universal, aber es ist durchaus ungewöhnlich, dass ein heutiger Künstler sich die Aufgabe stellt, für dieses Thema einen neuen Sinn zu suchen. Für mich liegt der Sinn des Bildes «Die Liebe zum Schönen» von Evgenij Kozlov in der Subtilität seines Aufbaus, mit der die besondere Wirkung auf den Betrachter erzeugt wird, sowie in der Stärke und Klarheit des geistigen Verhältnisses von Figur und Vogel. Dieses Verhältnis wird mithilfe der räumlichen Struktur der Komposition ausgedrückt, welche sich auf Form und Farbe gründet, die die Dynamik des Bildes erzeugen. Eine solche Dynamik bildet eine Bewegung und dabei im selben Maße ein Gleichgewicht. Die Bewegung ordnet die Elemente des Bildes an, und zwar in der Form eines offenen Kreises im Uhrzeigersinn, der fast eine Spirale bildet, was man vor allem am Flug des Vogels erkennt. Das Gleichgewicht wird durch die gelöste und gleichwohl gesammelte Aufmerksamkeit der Figur hergestellt. Die Synthese aus den Elementen der Ruhe und der Unruhe findet sich konzentriert in der Hand der Figur: ihre Geste bringt die Ruhe in Bewegung. Man empfindet die Schichtung der Kompositionsebenen wie einen kontinuierlichen Rhythmus innerhalb dieser Synthese, wie das Pulsieren des Herzens. Diese Synthese kann man so umschreiben, dass wir uns zum Teil in der Gegenwart befinden, die Vergangenheit in sich einschließt, und zum Teil in der Zukunft, und dass wir im Ganzen die Balance in der Mitte halten. Das ist der Puls des Lebens, die Liebe. Oder wenn wir eine Gestalt aus der Mythologie wählen, so ist der Künstler ein Reiter, der die Pferde beherrscht, welche in verschiedene Richtungen jagen, aber insgesamt doch wie ein Vogel oder ein Rakete in die Zukunft. Wenn wir aber vom Akademismus sprechen, so ist das Problem einer jeglichen Art von Akademismus, dass er sich vorzugsweise eines schon herausgearbeiteten Sinnes bedient und damit auf eine solche Dialektik verzichtet. Dadurch erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, starre, eingefrorene Kompositionen hervorzubringen.
Ausstellung in der Leningrader Organisation des Künstlerverbandes (LOSX) 1990 oder 1991  Am Saalende zwei Bilder von Evgenij Kozlov aus dem Zyklus «Die Neue Klassik»  «Die Liebe zum Schönen», «Die Liebe zur Erde» Fotografie aus dem Film von Yury Lesnik

Ausstellung in der Leningrader Organisation des Künstlerverbandes (LOSX) 1990 oder 1991
Am Saalende zwei Bilder von Evgenij Kozlov aus
dem Zyklus
«Die Neue Klassik»
«Die Liebe zum Schönen», «Die Liebe zur Erde»
Fotografie aus dem Film von Yury Lesnik

Timur verteidigte die Neue Akademie mit dem Argument, die Ästhetik des 19. Jahrhunderts und die Tradition Griechenlands wiederzubeleben. Dann kam er nicht umhin, seine Position zu konkretisieren und bestimmte künstlerische Werturteile zu formulieren; damit schränkte er aber das Spektrum der künstlerischen Möglichkeiten ein. So ist es bezeichnend, dass Evgenij bei der Ausstellung des Neoakademismus im Marmorpalast im März 1991 nicht mehr dabei war. Ein Teil seines Zyklus’ «Die Neue Klassik», darunter «Die Liebe zum Schönen», war bereits zuvor gezeigt worden, und zwar im Sommer 1990 auf der Schlossbrücke und Ende 1990 oder Anfang 1991 in den Räumen der Leningrader Organisation des Künstlerverbandes (LOSX) anlässlich der Ausstellung für reiche amerikanische Sammler, gemeinsam mit Bildern von Georgy Gurianov, Timur Novikov, Denis Egelsky, Valdislav Mamyshev-Monro, Aleksandr Nikolaev, Babi Badalov und anderen, die zu jenem Zeitpunkt noch als «inoffizielle» Künstler galten.

Bei der Gründung der Neuen Akademie spielten sicherlich die zahlreichen Reisen Timurs in den Westen eine Rolle. In der westlichen Kunst lernte er den Ansatz kennen, den ich bereits versuchte zu beschreiben: die Kunst drückt die Position einer wie auch immer gearteten Kritik an der Gesellschaft aus, wobei im Großen und Ganzen mit dem Einsatz minimaler Ausdrucksmittel maximale finanzielle Erträge erzielt werden sollen. Dem musste er aus tiefstem Herzen widersprechen. Ich verstehe seine Kritik am «kritischen Ansatz» wirklich sehr gut: den Vorwurf, den er den Künstlern in seinem Aufsatz aus dem Jahr 2000 «Zwei geschichtliche Betrachtungen der Gegenwartskunst» machte, in dem er sie beschuldigte, dass sie auf der Grundlage dieser Position keine einziges originäres Werk hervorgebracht hätten - dass sie keine «aktuelle Kunst» schaffen, sondern lediglich ein «modernisiertes Bild oder eine modernisierte Skulptur». Ich bin aber nicht mit ihm einverstanden, wo er im selben Aufsatz behauptet, dass der Mangel an Originalität daher rühre, dass die Künstler sich bemühten, sich selbst auszudrücken. Meiner Meinung liegt das Problem eher darin, dass eine reichgestaltete innere Welt fehlt, die auszudrücken es lohnt. Jedenfalls gibt Timur keine Erklärung dafür, was er eigentlich unter «aktueller Kunst» versteht. Fakt ist, dass er lediglich sagt, sie sei nicht vorhanden.

Оleg Maslov in der «Neuen Akademie der schönen Künste», 1993

Оleg Maslov in der «Neuen Akademie der schönen Künste», 1993

photo: Hannelore Fobo

Selbstverständlich gibt es nicht nur im Westen die Vorstellung von der Gegenwartskunst als ideologischer Waffe, was Timur ja kritisierte. Diese Auffassung findet man auch in Russland, aber ich glaube, dass die Gründung der Akademie für ihn der Ausdruck seiner eigenen kritischen Position war, die sich im Wesentlichen gegen den Westen richtete. So gibt es im Westen eine Art von Konzeptualismus, die man mit der berüchtigten Frage zusammenfassen kann «Was wollte der Künstler damit sagen?», und für Timur gab es eine andere Art von Konzeptualismus «Was wollte der Künstler damit zeigen?». Dafür aber, wie man das Schöne richtig zeigt, arbeitete er ein eigenes Dogma aus: die Ablehnung des Modernismus und des Postmodernismus. Doch eigentlich war es keine vollständige Ablehnung, sie blieb im Vagen.

Deshalb glaube ich, dass es darauf ankommt, nicht in erster Linie das Projekt der Akademie als solches zu diskutieren, sondern das Ziel, das Timur mit ihr verfolgte. Indem er die Akademie ins Leben rief, lud er sich die immense Arbeit auf, die gesamte Welt der Kunstwissenschaftler von der Bedeutung des Schönen zu überzeugen, das heißt, von der Notwendigkeit, in der Kunst vom Wort zur Form zurückzukehren oder von der Politik zum Gefühl. Er trat als Lehrer auf, als Pädagoge, und für seine Ziele benutzte der die Methoden, die ihm am angemessensten erschienen. Und nun ergibt sich ein Problem: man kann natürlich die Kunst Griechenlands technisch gesehen wieder zum Leben erwecken, aber der Geist ist ja doch nicht derselbe. Das wird sofort klar, wenn man sich das Manifest des Neoakademismus im Film von Olga Tobreluts anschaut, wo wir Timur in der Rolle Puschkins sehen (übrigens mit großer Ähnlichkeit), oder den Film «Das rote Quadrat oder der Goldene Schnitt», wo er in der Rolle des Professors der Akademie seinen Zögling Vladislav Mamyshev streng bestraft, weil dieser den goldenen Schnitt missachtet und einfach ein rotes Quadrat malt. Beide Filme sind deutlich auf Parodie abgestellt, und diese übertriebene Form ist kein Zufall, denn auf diese Weise lenkte Timur die Aufmerksamkeit auf das, was ihn bewegte.

Nur ist es so, dass in der Kunst die Parodie im Unterschied zum Humor immer ein Zeichen des Konzeptualismus ist. Der Konzeptualismus will ein Kunstwerk aus einem Prinzip, einer Theorie heraus schaffen, aber er hat kein Gespür für die Stimmigkeit der Form, nur für die Richtigkeit der Idee, die er mit einem Ausrufezeichen verkündet. Wenn aber die Richtigkeit der Idee in der Kunst das Wichtigste wäre, dann wären die Kunstkritiker die besten Künstler.

Тimur Novikov «Аmor und Psyche» Plüsch, Fotografie, Perlen, Glasperlen, 194 х 134 сm, 1993

Тimur Novikov
«Аmor und Psyche»
Plüsch, Fotografie, Perlen, Glasperlen, 194 х 134 сm, 1993

photo: Hannelore Fobo, 1996

Und jetzt kommen wir zu einem interessanten Paradox: Timur selbst hat nicht damit begonnen, wie andere Mitglieder seiner Gruppe Bilder im akademischen Stil zu malen. In seiner Kunst nahm er von seiner Theorie Abstand, er bevorzugte eine Reihe verschiedener Techniken, die näher an der Gegenwart liegen, wie zum Beispiel Collage auf Stoff. Mit anderen Worten, in der Praxis betätigte er sich als Künstler und nicht als Kunstwissenschaftler. Deswegen sind seine Arbeiten auch schön. «Schönheit» erklärte er überhaupt nicht mit einer Theorie, sondern er gab Beispiele, historische und seine eigenen. Vom Grundsatz her ist das richtig und logisch. Erklären zu wollen, wie man ein schönes Bild malt, ist einfach Unsinn. Meiner Meinung nach befindet sich jeder im Irrtum, der glaubt, dass man durch das Aneignen eines Kanons – sei es eines alten oder neuen - «schön» malen lernt. Dass man aus der Theorie heraus kein «schönes» Bild schaffen kann, heißt aber andererseits nicht, dass ich nicht in der Lage bin, objektive Kriterien für eine spezifische Schönheit zu anzugeben, wenn ich sie sehe. Hier kommen wir zur Wissenschaft des Schönen, zur Ästhetik, die die primäre Aufgabe der Kunstwissenschaftler ist. Zu erzählen, wo der Künstler geboren wurde, wie er lebte und mit wem er befreundet war oder gemeinsam ausstellte, mit anderen Worten, die Aufzählung biographischer Fakten, all dies ersetzt nicht die Beschreibung seiner Werke, und die Beschreibung ersetzt wiederum nicht die Beurteilung der Werke nach ästhetischen Kriterien, die man heutzutage kaum noch findet. Die Ausstellung ist «wichtig» und die Arbeit ist «interessant». Das mag ja sein, aber das sind keine Bewertungen, denn interessant oder wichtig kann alles Mögliche sein. Ich hätte gerne erklärt, was genau daran interessant ist! Vor kurzen habe ich eine Kritik zu einer Ausstellung Roy Lichtensteins gelesen, in der es hieß, dass die erhabene Banalität des frühen Werkes in die Belanglosigkeit und Trivialität seines späteren Werks umschlägt. Ich würde zugern wissen, wodurch sich die einfache Banalität von der erhabenen unterscheidet, und zwar nicht nur durch das Beispiel eines Bildes, sondern in einer Begründung nach ästhetischen Kriterien. Das wäre wirklich interessant! Bequemer ist es natürlich, wenn man über das spekuliert, «was der Künstler sagen wollte» oder, noch zeitgeistiger, «was der Künstler kritisieren wollte». Darüber kann man dicke Bände schreiben.

Mir drängt sich der Schluss auf, dass es entweder an Professionalität fehlt, um Argumente für die Wahrnehmung der Schönheit zu finden, oder dass eine große Furcht davor herrscht, man mache sich angreifbar und setze sich dem Vorwurf der Subjektivität aus, wenn man überhaupt von der Schönheit oder Harmonie des Kunstwerks spricht. Aber was hat ein Kenner eigentlich zu fürchten? Merkwürdigerweise fürchten sich die Kritiker von Theater, Literatur, Musik, Kino und Architektur nicht davor, ihre ausführlichen, klugen, begründeten Urteile des «Interessanten» und vor allem des «Uninteressanten» abzugeben. Das liest sich erfrischend und anregend.

Ich denke, dass das Verdienst des Neoakademismus in seinem konzeptionellen Ansatz liegt, mit der er die Situation der zeitgenössischen Kunst an einer wichtigen Stelle trifft, nämlich an der Abwesenheit ästhetischer Kriterien. Denn wenn man lediglich unterstreichen will, wie wichtig das Kopieren antiker Büsten ist, dann ist schwer einzusehen, wozu neben der Russischen Kunstakademie in St. Petersburg eine weitere akademische Schule mit ebensolchen Prinzipien und Vorstellungen von Schönheit vonnöten ist. Das soll aber keineswegs die Bedeutung der Neuen Akademie der Schönen Künste schmälern in Hinblick auf die schon längst überfällige Diskussion darüber, ob der Begriff des «Schönen» in der Kunst seinen Platz hat. Timur hat die Kunstwissenschaftler in überzeugender Weise dazu aufgerufen, sich dieser Aufgabe anzunehmen. Und ganz gewiss hatten der Umfang der Ausstellungstätigkeit und die Intensität der Auslandskontakte der Kuratoren positive Auswirkungen auf das kulturelle Leben Russlands.


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