Ev.g.e.n.i.j ..K.o.z.l.o.v (E - E)                                                  


Hannelore Fobo

Bild und Abbild

Die Kunst der Zukunft bei Evgenij Kozlov und die Zukunft des Kunstwerks bei Walter Benjamin


1.
Die Ethik als ästhetisches Problem



    Wenn man sich mit der Aufgabe beschäftigt, die die Kunst in der Zukunft haben kann, behandelt man die Frage, in welchem Umfang Werke der Kunst das Individuum zu einer wie auch immer gearteten, doch jedenfalls neuen Erkenntnis seiner selbst und seines Zusammenhanges mit der Welt führen können.

Diese Erkenntnis soll aber eine produktive Erkenntnis sein, das heißt, sie soll fruchtbar sein für das Handeln. Wer wollte bestreiten, dass sich das Handeln des Menschen in der Zukunft ändern muss? Und dass die Möglichkeit zur Entwicklung einem jedem Menschen gegeben sein muss? Selbstverständlich haben diese Fragen nur eine Berechtigung, wenn man überhaupt eine Vorstellung vom Fortschritt der Menschheit zulässt – und zwar nicht in technischer Hinsicht, sondern in moralischer Hinsicht. Wir sprechen also vom Sinn der künstlerischen Handlung im Unterschied zur Beliebigkeit einer solchen. Wir sprechen von der Ethik als einem ästhetischen Problem.

Dieser Aufsatz widmet sich daher nicht der Frage, welche neuen künstlerischen Stile für die Zukunft Bedeutung haben mögen. Er widmet sich dem Problem, wie in einer Zeit, in der es als Errungenschaft gilt, ein Beliebiges „Kunst“ zu nennen, die Kunst wieder schärfere Konturen gewinnen kann. Anders formuliert: Was kann die Kunst für die Zukunft erreichen, was die Nicht-Kunst nicht kann? Dabei geht es in erster Linie um die bildende Kunst, an die heute häufig die Erwartungen gestellt werden, die vor zweihundert Jahren der Dichtkunst galten, als die Dichtung mit der Philosophie um das wahre Wissen rang.

Ob – und wenn ja, auf welche Weise – Ästhetik und Ethik zusammengehen können, ist ja seit dem Beginn einer Kunsttheorie, also seit dem 18. Jahrhundert, ein ungelöstes Problem, aber dieses Problem wurde zunächst für die Sprachkunst untersucht. Für die Frühromantiker war die Ethik eine Frage der poetischen Erkenntnis, und die Dichtung wollte diese Erkenntnis vermitteln (Man hat nur so viel Moral, als man Philosophie und Poesie hat“, schrieb Friedrich Schlegel[1]). Die bildende Kunst jedoch vermittelte nicht Erkenntnis, sondern – Stimmungen. Sie konnte daher auch nicht philosophisch sein. Erst in dem Maße, wie die bildende Kunst ihr Sujet verlor, Anfang des 20. Jahrhunderts, wurde ihr Inhalt zu einem Problem der Weltanschauung und damit der Ethik.

Was kann aber die bildende Kunst tatsächlich für die Zukunft leisten? Der Gegensatz zwischen einer „engagierten“ Kunst, die soziale Veränderungen bewirkt, und dem „l’art pour l’art“, der Kunst als Selbstbespiegelung, scheint als ein Gegensatz zwischen Aufklärung und Romantik für alle Zeiten festgeschrieben zu sein; er prägt auch die heutigen Kunstdebatten. Dies ungeachtet einer solch bedeutenden Schrift wie der Friedrich von Schillers „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ von 1795,[2] mit der dieser Gegensatz eigentlich hätte überwunden werden können, bevor er richtig entstand. Für Schiller war die Ethik in ihrer zukünftigen Entwicklung nicht mehr eine Frage des vermittelten Wissens (der Gebote), sondern der Ästhetik, für die er den Begriff des „schönen Scheins“ prägte. Ich habe mich mit dieser Schrift in dem Aufsatz „Schiller. Idee, Ideal und Schein in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen“ ausführlich beschäftigt. Selbstverständlich setzt auch die Ästhetik ein Wissen voraus, aber dieses Wissen geht aus einer inneren Erkenntnis hervor und besitzt damit eigene Grundlagen. Und da der Begriff des „schönen Scheins“ über die Dichtkunst hinausgeht, weil er in jeder Handlung auf die Herstellung einer Harmonie abzielt, werde ich ihn in diesem Aufsatz verwenden.

Bei all dem hoffe ich, dass es mir gelingt, einen neuen Aspekt in die Diskussion einzubringen, indem ich unter Verwendung von Evgenij Kozlovs Terminologie die „Kunst“ begrifflich vom „Kunstwerk“ trenne. Die Kunst ist dieser Auffassung nach ein innerer Vorgang, das Kunstwerk sein Produkt. Dadurch ist es möglich, das Augenmerk vom Produkt auf den zugrundeliegenden geistigen Vorgang zu richten; dadurch ist es aber auch möglich, den Bildbegriff, der zum Produkt gehört, zu überdenken.

Solche Aussagen über geistige Vorgänge formulierte der Künstler Evgenij Kozlov (geb. 1955 in Leningrad, heute St. Petersburg) in einem Gespräch mit mir im Jahre 1991, welchem ich den Titel die „Kunst der Zukunft“ gegeben habe[3]. Denn in diesem Gespräch ging es nicht nur um die Grundlagen der schöpferischen Tätigkeit, sondern auch darum, dass die schöpferische Tätigkeit in Zukunft immer mehr aus dem Bewusstsein des Menschen erfolgt, was für seine künftige Daseinsform eine Rolle spielt. Den bewussten Schöpfungsprozess nennt Evgenij Kozlov explizit „die Kunst der Zukunft“.

Evgenij Kozlovs Aussagen stelle ich die Thesen Walter Benjamins gegenüber, die er in seinem Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ festgehalten hat (1936 erstveröffentlicht)[4]. Warum ich Walter Benjamin ausgewählt habe, will ich kurz begründen. Ich nehme dabei noch einmal auf Schiller Bezug.

Wenn man die moralische Entwicklung des Menschen nicht als einen der Natur überlassenen Prozess (der „Evolution“) ansieht, sondern als dem Menschen selbst überlassenen, oder besser: in immer höherem Maße überlassenen, so kann man mit Schiller sagen, dass die ästhetische Erziehung des Menschen eine Selbstbildung ist. Sie ist eine freie Tat, die aus einem „ästhetischen Zustand der Unbestimmtheit“ hervorgeht, welcher mithilfe des schönen Scheins vom Menschen erst geschaffen wird. Ein solcher ästhetischer Zustand ist der Natur nicht erreichbar. Bei Walter Benjamin ist diese Bildung keine freie Tat, sondern erfolgt durch Erziehung von außen; sie übt auf ihr Objekt einen Zwang aus. Evgenij Kozlov wiederum spricht von der Selbstbildung im Sinne von Impulsen, die das Innere gestalten, wenn der Mensch sie ergreift – der Kunst. Der Impuls wird dann über das Kunstwerk, das nach der Harmonie der Erscheinung strebt, nach außen getragen. Es wird anschließend auf eine jeweils individuelle Weise rezipiert, dabei wird der Impuls umgewandelt.

Solche Impulse, die ursprünglich, das heißt ohne Einwirkung einer äußeren Anschauung entstehen, sind aber notwendig, um den Freiheitsbegriff im Sinne Schillers voranzubringen, nämlich als freie Tätigkeit, die den doppelten Zwang, unter dem der Mensch steht – durch Naturgesetze und durch Vernunftgesetze – , überwindet, indem er mit ihrer Hilfe ein Drittes schafft: den schönen Schein. Nur Impulse, die nicht Funktion materieller Gegebenheiten sind, können solche freie Taten bewirken. Man kann hinzufügen, dass solche Impulse ihre ästhetische – befreiende – Wirkung behalten, wenn sie vom Betrachter über das Kunstwerk rezipiert werden. Sie wirken durch die materielle Form des Kunstwerks hindurch.

Nun haben von Impulsen viele Künstler gesprochen und Schiller selbst gerade nicht: die „Impulse“ ergeben sich bei ihm aus der Logik der Argumentation. Wichtiger ist, dass Schiller mit dem „schönen Schein“ einen Begriff der künstlerischen Schöpfung einführt, der wohl über alles hinausgeht, was sich bei seinen Zeitgenossen findet, die wie Friedrich Schlegel den Künstler als Mittler sehen, den Offenbarer einer Wahrheit. Bei Schiller ist der Künstler aber kein Mittler von etwas Existentem, einer existierenden Idee, für die er eine sinnliche Form schafft – Hegels „sinnliches Scheinen der Idee im Schönen“. Sondern er ist durch seine freie Tat eben – Schöpfer. Dieses aktive Eingreifen, das dem Weltgeschehen sozusagen eine neue Nuance oder vielleicht sogar Dynamik gibt, sehe ich im Gespräch über die „Kunst der Zukunft“ besprochen. Die Ästhetik, der „schöne Schein“ bekommt hier, man möchte sagen, ein Gewissen; jedenfalls eine ethische Komponente: die Kunst ist dabei, ein Bewusstsein von sich selbst und ihren Möglichkeiten zu erlangen. Die Kunst als innerer Zustand, dem ästhetischen Zustand Schillers vergleichbar, führt zum Begriff der harmonischen Handlung, der sich jetzt vom Begriff der Schönheit als äußerer Wahrnehmung trennt.

Es gibt daher eine ideelle Verbindung zwischen Friedrich Schiller und Evgenij Kozlov, während Walter Benjamin auf einer Seitenlinie liegt: er will zwar auch ein aktives Eingreifen des Menschen in den Gang der Geschichte, kann aber in seiner Theorie vom Menschen als „Matrix“ ursprüngliche Impulse, die der Mensch ergreifen könnte, nirgends unterbringen. Daher wird ihm das Kunstwerk zum äußeren Mittel, diese Matrix zu formen. Bei Walter Benjamin ist die Zukunft des Kunstwerks vorherbestimmt, und dadurch bleibt es letztendlich passiv, während Evgenij Kozlovs „Kunst der Zukunft“ sich einer solchen Manipulation entzieht und so einen aktiven Charakter annehmen kann.

In der Diskussion von Evgenij Kozlovs und Walter Benjamins Aussagen will ich versuchen, das Wesentliche dieses Gegensatzes zu bestimmen. Der Zugang, den ich zu diesen Aussagen habe, ist jeweils verschieden. Benjamins Aufsatz ist für mich eine schriftliche Quelle, Evgenij Kozlovs Formulierungen sind im Gespräch mit mir entstanden (und durch meine Fragen angeregt worden). Das geschah 1991 zum ersten Mal und in den vergangenen Jahren viele Male. Obwohl durch diese Gespräche der Inhalt der „Kunst der Zukunft“ weiterentwickelt wurde, wobei einige Begriffe präzisiert werden konnten, andere neu entstanden sind, halte ich die Aussagen von 1991 nach wie vor für grundlegend und ergiebig in Hinblick auf die Untersuchung des Gegenstandes. Es wird dem Leser nicht verborgen bleiben, welchem Standpunkt ich mich anschließe. Doch glaube ich, dass ich durch die Genauigkeit der Analyse beiden gerecht werde.

Selbstverständlich wäre es für den Vergleich reizvoll, andere Autoren dazuzunehmen, die sich über die Aufgabe der Kunst ausgesprochen haben, beispielsweise Novalis, Kleist, Kandinsky, oder gar einen historischen Abriss dieses Problems in Angriff zu nehmen. Ich habe mich neben Schiller und Goethe auf Pavel Florenskij beschränkt, der mit seiner Vorstellung von der Ikone als kanonisierter Abbildung der Wahrheit einige grundlegende Gedanken zu diesem Thema formuliert hat. Für die Veranschaulichung dessen, worauf es mir ankommt, mögen diese Standpunkte exemplarisch und ausreichend sein.

Auf den nächsten Seiten will ich zunächst versuchen, das Problem zu umreißen und meine These zu formulieren, dass man nur über ein Verständnis der Genese des Kunstwerks zur „Kunst der Zukunft“ gelangen kann. Anschließend will ich mich mithilfe des Bildbegriffs detailliert mit den Aussagen von Walter Benjamin und Evgenij Kozlov beschäftigen.



2.
Der kritische Ansatz und sein erkenntnistheoretischer Anspruch



Räumen wir für das Kunstwerk die Möglichkeit eines Sinnes und damit von fruchtbaren Folgen für die Zukunft ein, so kann man diese unter zwei Aspekten betrachten. Zum einen als einen sozialen Anstoß, der unmittelbar aus der Auseinandersetzung des Künstlers mit der ihn umgebenden Welt erfolgt. Er setzt ein beim Gedanken über die Welt, wie sie uns in ihrer Unvollkommenheit gegeben ist, und benutzt technische Mittel, um über diese Unvollkommenheit aufzuklären. Diesen Aspekt kann man aufklärerisch nennen, er ist kritisch und nach außen gerichtet. Kennzeichen des kritischen Ansatzes ist sein Lehrcharakter, er ist didaktisch-erzieherisch.

Der zweite Aspekt richtet sich auf das seelische Wachstum, das durch die Schaffung neuer Bildwelten erfolgt. Dieses seelische Wachstum befähigt das Individuum, Sicherheit bei der Entwicklung seiner schöpferischen Fähigkeiten und damit eines wesentlichen Teils seiner selbst zu gewinnen. Die Entwicklung der schöpferischen Fähigkeiten wirkt nach außen – sozial – mittelbar, in der Konsequenz. Kennzeichen dieser Art von seelischem Wachstum ist die Selbstbildung.

Das Gespräch mit dem Titel „Die Kunst der Zukunft“, das ich 1991 mit Evgenij Kozlov führte, beschäftigt sich mit diesem zweiten Aspekt. Das Kunstwerk wird hier behandelt als Ergebnis eines komplexen inneren passiv/aktiven Vorgangs, welcher als „Kunst“ im eigentlichen Sinne bezeichnet wird. Er ist gegenüber dem Kunstwerk als seinem Endprodukt primär und findet außerhalb der technischen Produktionsbedingungen statt; diese sind damit von sekundärer Bedeutung. Hierzu sagt Evgenij Kozlov:

„Sämtliche neue Richtungen, die in der Kunst heute noch auftauchen, d.h. alles, was der Mensch mit den Händen gestaltet oder gestalten wird, berührt, von der „Kunst der Zukunft“ aus betrachtet, doch nur technische Fragen. Das ist das Grundlegende. Im Sinne dieser Theorie sind es Techniken des Ausdrucks, der technische Aspekt der Kunst. Die „Kunst der Zukunft“ stellt sich nicht die Frage nach der Technik, mit deren Hilfe der Künstler etwas ausdrücken will. Für sie kommt es auf den inneren Zustand des Künstlers an, auf jenes Gefühl ... ja, hauptsächlich ist es natürlich ein Gefühl, das es ihm ermöglicht, etwas zu empfangen, und durch das er sich innerlich etwas schafft. Mit anderen Worten, primär ist das, was der Künstler fühlt und in seinem Inneren erschafft, damit später irgendwelche Bilder und dergleichen entstehen können. Das Schaffen der Bilder selbst kommt für ihn an zweiter Stelle.“[5]

Dem „kritischen Ansatz“ ist eine solche Formulierung nicht exakt genug. Der „innere Zustand des Künstlers“ kann ihm keine Methode zur Erkenntnis der Welt liefern; er hat damit auch keine ethischen Konsequenzen.

Wenn aber im Sinne des kritischen Ansatzes ein Kunstwerk ein mehr oder weniger geeignetes Instrument sein soll, präzise Erkenntnisse über den Zustand der Welt zu liefern und diese Erkenntnisse aufklärerisch einzusetzen, so sind die Instrumente, die mir für die Gewinnung dieser Erkenntnis zu Verfügung stehen, in der Tat von primärer Bedeutung. Indem die technischen Mittel die Gegebenheiten der äußeren Welt mit immer besseren Methoden abbilden, dringt das Kunstwerk immer weiter in diese Welt ein, wird der Gegenstand der Untersuchung immer besser erfasst. Das Kunstwerk nimmt einen wissenschaftlichen Charakter an, dem die ästhetische Form beigeordnet ist.

Als Vertreter dieser Position ist Walter Benjamin mit seiner Schrift „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ hervorgetreten, wo er die Identität der wissenschaftlichen und der künstlerischen Verwertung als eine von mehreren revolutionären Funktionen des Films bezeichnet und bereits im Vorwort „Thesen über die Entwicklungstendenzen der Kunst unter den gegenwärtigen Produktionsbedingungen“[6] fordert.

Walter Benjamins Schrift nimmt insofern eine besondere Stellung ein, als sie den abschließenden Versuch darstellt, zwei Gedankenstränge zusammenzuführen, die sich in der neueren Zeit auseinander entwickelt haben. Es handelt sich einerseits um die Auffassung, ein Werk der bildenden Kunst, welches noch in irgendeiner Weise gegenständlich zu nennen ist, bilde Ereignisse oder Gegenstände ab, die bereits eingetreten bzw. vorhanden sind. Eine solche abbildende Funktion bindet es zwangsläufig an die Vergangenheit. Andererseits gilt aber auch der Anspruch an dieses Werk, Impulse für die Zukunft zu geben.

Wir sehen hier den Wunsch, bei der Abbildung zu bleiben, mithilfe der technischen Mittel der Fotografie und des Filmes aber eine neue, wirksamere Abbildung der Realität zu erreichen, um diese Impulse zu ermöglichen. Die Abbildung selbst soll die Zukunft hervorrufen. Das Tafelbild kann nach Meinung Benjamins diese Wirksamkeit nicht mehr entfalten, da es nur zur Kontemplation führt. Es fehlt ihm gewissermaßen der appellative Charakter.[7]

Wie lässt sich aber aus der Wiedergabe einer äußeren Gegebenheit, und sei sie auch noch so genau, eine Vorstellung entwickeln, welchen Weg man beschreiten soll? Alle Widersprüche, die sich aus dem Anspruch an einen solchen „utopischen Realismus“ der Abbildung ergeben, sind in Benjamins Ausführungen enthalten.

Und schließlich: warum sollte die Realität überhaupt abgebildet werden, wenn es sie schon einmal gibt? Wozu brauchen wir eine Verdoppelung der sinnlich erfahrenen Realität durch Kunstwerke? Dieser berechtigte Einwand führt im 20. Jahrhundert dazu, dass die Abbildung visuell wahrnehmbarer Gegenstände gänzlich in Frage gestellt wird. Sofern der Künstler nicht den Rückzug in die abstrakte Kunst antritt, tritt an ihre Stelle der Gedanke über die Wirklichkeit: dieser Gedanke wird verbildlicht. Hypothesen über die logische (wahre) Struktur der Welt werden Thema des Bildes. Die bildende Kunst will Philosophie werden, so wie es einst die Dichtkunst sein wollte.[8]

Eine jegliche Erkenntnis ist hier eine Aufklärung über eine Täuschung, über einen Zustand, der für sich gesehen keine Berechtigung hat. Die erfahrene Wirklichkeit wird damit erkenntnistheoretisch immer zu einer Wirklichkeit mit negativem Vorzeichen. In dieser Variante des „kritischen Ansatzes“, der Konzeptkunst, ist die Kontextverschiebung oder Verfremdung von Gegenständen mit oder ohne Symbolcharakter ein verbreitetes Stilmittel; die „Hinterfragung“ oder „Dekonstruktion“ des Vorgefundenen dient der Aufklärung über eine Täuschung und findet eine beliebte Ausdrucksform als Text (Jenny Holzer, Lawrence Weiner), Allegorie (Sophie Calle) oder Karikatur (Martin Eder). Ein besonderer Erziehungsauftrag ist mit der Konzeptkunst nicht verbunden. In einer speziellen Variante der Konzeptkunst, der politischen Konzeptkunst, wird in einem zweiten Schritt als verbaler Zusatz, als Erklärung oder Auslegung der Allegorie, die Forderung erhoben, dass das, was man kritisiert, nicht sein solle beziehungsweise, dass es anders sein solle. Man hofft, durch die Forderung, den Protest oder ähnliche Aktionen eine Wirklichkeit mit positivem Vorzeichen herbeizuführen. Der Forderungskatalog ist Merkmal dieser Kunstrichtung, deren Vertreter sich mehr oder weniger explizit als politische Akteure verstehen (Pussy Riot, Ai Weiwei). Den Forderungen Aufmerksamkeit zu verschaffen, ist ihr Inhalt. Ob man sich den Forderungen anschließen will oder nicht, sie als berechtigt ansieht oder nicht, ist eine Frage der persönlichen Einstellung. Mir geht es jedoch darum, dass die Konzeptkünstler sich in dieser Hinsicht nicht grundsätzlich von anderen gesellschaftlichen Gruppierungen unterscheiden, die politische Forderungen aufstellen, zum Beispiel von Greenpeace oder der Occupy-Bewegung. Sie unterscheiden sich von ihnen lediglich dadurch, dass sie sich selbst als Künstler bezeichnen.

Obgleich die politische Konzeptkunst einen starke Position in der Gegenwartskunst hat, wie man etwa am Programm der Berlin Biennale 2012 sehen konnte, die den politischen Protest zu ihrem Inhalt machte, ist sie im Zusammenhang mit meiner Untersuchung zur „Kunst der Zukunft“ nicht relevant. Wenn wir innerhalb des kritischen Ansatzes bleiben, der in der Kunst selbstverständlich nur einer von vielen möglichen Ansätzen ist, so ist Walter Benjamins Gedankengang bezüglich einer „Kunst der Zukunft“ ergiebiger. Dies aus einem bestimmten Grund. Walter Benjamin bleibt nicht bei der Forderung stehen, was sein solle oder nicht sein solle, sondern unternimmt den Versuch, Kunst, Wissenschaft und Ethik auf eine solche Weise zu einer widerspruchsfreien Weltanschauung zusammenzufügen, dass das Kunstwerk erstens definitorisch erhalten bleibt. Dazu führt er den Hilfsbegriff der „Aura“ ein. Eine solche inhaltliche Definition gibt es bei der Konzeptkunst nicht. In ihr bestimmt sich das Kunstwerk anhand von Sekundärmerkmalen: bezeichnet sich der Hersteller als Künstler, ist sein Produkt ein Kunstwerk. Oder auch: ist der Kontext, in welchem das Werk zu sehen ist, einer bestimmten Institution zuzuordnen, die als künstlerisch bestimmt wurde, ist das Werk ein Kunstwerk. Der Begriff des Kunstwerks ist damit ein abgeleiteter, kein originärer.

Zweitens hat bei Walter Benjamin das Kunstwerk eine spezifische Aufgabe für die Entwicklung des zukünftigen Menschen, während bei der Konzeptkunst vom eigenen Verständnis her die Wirkung auf den jeweiligen Moment gerichtet ist: nicht der Mensch soll sich ändern, sondern die aktuellen Verhältnisse.



3.
Wovon ist das Bild ein Bild?



Während der kritische Ansatz das Kunstwerk als Mittel der Aufklärung betrachtet, somit sein Augenmerk auf das Produkt legt, mit dem ein bestimmter Zweck erreicht werden soll (Produkt ist in dem hier gemeinten Sinne auch eine Handlungsanweisung), stellt sich Evgenij Kozlov die Frage nach den Impulsen, die sein Inneres berühren, aus denen heraus er Bilder schafft.

Damit sind wir aber bei einem für die bildende Kunst ganz wesentlichen Begriff angelangt, dem Bildbegriff. Das Attribut „bildend“ hat ja die Idee der Formgebung bewahrt: als Partizip betont es die Verlaufsform, und das „Bild“ ist sozusagen Endpunkt des Verlaufs. Diese Verlaufsform gibt es beispielsweise im Englischen nicht. „Visual arts“ bezieht sich nur auf das Bild als materiellen Gegenstand und die Art und Weise seiner Wahrnehmung. Diese Tendenz besteht im Deutschen auch, indem aus der „bildenden Kunst“ einfach das Produkt „Kunst“ wird und dieses zunehmend als „Arbeit“ bezeichnet wird, ebenfalls im Sinne eines materialisierten Gegenstandes: das „Bild“ ist die „Arbeit“ des Künstlers.[9]

Das „Bild“ hat aber eigentlich einen doppelten Charakter: als Prozess und als Produkt. Üblicherweise benutzen wir den Begriff des Bildes ganz im Sinne der obengenannten Vergegenständlichung von Prozessen als Synonym für Gemälde.

Damit stellt sich aber die Frage: Wovon ist das „Bild“ ein Bild?

Einfach ausgedrückt, kann man antworten: Walter Benjamin untersucht das Bild wie einen archäologischen Fund, dessen materielle Beschaffenheit es in das Hier und Jetzt herübergerettet hat; es ist somit ein Bild seiner geschichtlichen Herkunft und Funktion. Benjamin nennt diese Funktion „geschichtliche Zeugenschaft“[10]. Für Evgenij Kozlov ist das Gemälde das Bild eines schöpferischen, das heißt geistigen Prozesses, der sich mithilfe der Darstellung schrittweise manifestiert. Bei Benjamin ist die Vorlage des Gemäldes bereits vorhanden[11], bei Kozlov entsteht sie gemeinsam mit dem Gemälde; wir können hier von einer nicht näher definierten Wechselwirkung sprechen. Deshalb betont Benjamin die Zeugenschaft des Gemäldes, Kozlov das Erlebnis des schöpferischen Prozesses, der sich beim Anblick des Gemäldes neu erleben lässt.

Diese verschiedenen Ansätze führen in Bezug auf das Bild als Original (hier: das Gemälde) zu unterschiedlichen Folgen. Weil die „geschichtliche Zeugenschaft“ des Originals durch getreuliche Kopien ersetzt werden kann, fürchtet Walter Benjamin um die ursprüngliche Abbildung, das Original. Die Einzigartigkeit des Originals, seine Aura, wird bedroht durch die Reproduktion. Evgenij Kozlov muss sich um das Original keine Sorgen machen, da es ihm darauf ankommt, welchen geistigen Prozess das materielle Bild beim Betrachter auslöst. Wenn die Kopie diese Aufgabe so gut löst wie das Original, dann ist nichts gegen die Kopie zu sagen. Allerdings ist es aus demselben Grund für den Künstler sinnlos, ein Werk zu reproduzieren: das Original genügt.



4.
Der Gebrauchswert des Kunstwerks



Sein geschichtliches Verständnis des Originals führt Walter Benjamin dazu, sich mit dem zeitlich bestimmten Gebrauchswert oder Tauschwert des Kunstwerks zu beschäftigen. Der Gebrauchswert (für den Konsumenten) oder Tauschwert (für den Händler) einer Sache sieht ganz ab von den inneren Impulsen, mit deren Hilfe das Produkt entstanden ist. Es ist ja für denjenigen, der mit Waren handelt, geradezu eine Bedingung, dass er sich nicht innerlich mit seiner Ware verbindet, denn sonst würde er sie nicht weggeben wollen oder ihm einen Preis zumessen, der nicht seinem Tauschwert entspricht. Denn es ist klar, dass ein Tauschwert nicht von einer Person willkürlich bestimmt werden kann. Zu seiner Ermittlung ist das Zusammenspiel einer ganzen Reihe von Akteuren notwendig. Aber auch dann, wenn er ermittelt wurde, gilt er nur für diesen bestimmten Moment. Der Verkäufer beschäftigt sich mit dem materialisierten geistigen Prozess, dem Produkt, der Käufer antizipiert die geistige Bereicherung, die ihm das Produkt bereiten wird. Das ist der Gebrauchswert der Sache für den Käufer, insofern er Konsument ist und nicht Zwischenhändler oder Produzent, der die Sache als Produktionsmittel nutzt.

Man kann sagen, für den Händler wird das Kunstwerk in dem Augenblick, wo er es als Ware behandelt, wo es seinen Tauschwert erhält, geschichtlich. In dem Augenblick, wo die Ware für den Konsumenten zum geistigen Erlebnis wird, macht sie sich wieder ungeschichtlich, denn sie setzt ihn aus dem Zeitverlauf hinaus, wenn der Konsument, wie man sagt, „alles um sich herum vergisst“. Anders formuliert: wenn der Geist vergisst, dass der Körper altert.

Und man kann sogar so weit gehen, dass man sagt, dieses Ungeschichtlich-Werden sei für den Käufer beim Erwerb maßgeblich. Ob sich das Erlebnis dann tatsächlich einstellt oder nicht, will ich hier unberücksichtigt lassen. Es kommt mir hier auf die Erwartung des Käufers an.

Die geschichtliche Betrachtung rückt also immer dann in den Vordergrund, wenn die Unmittelbarkeit der Erfahrung verblasst oder nicht mehr gegeben ist. Wenn also Walter Benjamin beim Anblick des Tafelbildes von „bloßer Optik“[12] spricht, dann ist damit ausgedrückt, dass er mit dem Anblick des Tafelbildes keine lebendige Erfahrung verbindet. Das Tafelbild mit seinem geistigen Gehalt (als Gegenstand des Kultes) ist für ihn zu etwas Ausgeschiedenem, zu einem toten Ding geworden. Ohne geistigen Gehalt ist es eine Leiche. Man kann es anstarren, so lange man will, es wird nicht wieder lebendig, es bleibt Konvention. Es hat nur noch einen Tauschwert als Platzhalter, als Erinnerungsstück an etwas, was einmal wichtig war. Allerdings ist damit nicht gesagt, dass eine solche Erfahrung, wie Walter Benjamin sie hat, eine allgemein gültige ist beziehungsweise, dass es nicht neue „Tafelbilder“ geben kann, die diese lebendige Erfahrung der Zeitlosigkeit vermitteln.

Fassen wir noch einmal zusammen. Nehmen wir an, ein Gegenstand sei rein geschichtlich geworden. Der Gebrauchswert ist dann der Erinnerungswert des Gegenstandes. Die Erinnerung kann aber auf vielfältige Weise bewerkstelligt werden. Um eine Vorstellung von etwas Vergangenem in mir hervorzurufen, brauche ich den Originalgegenstand nicht unbedingt. Ich kann diese Vorstellung auch an einer Kopie erlangen. Jetzt kommen sich Original und Kopie begrifflich ins Gehege: sie kommen sich in dem Maße ins Gehege, wie sie sich stofflich annähern. Benjamins Definition eines Kunstwerks als originales Bild – als geschichtlich verbürgte „Echtheit“ des zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort hergestellten Kunstwerks – wird unzureichend.



5.
Die Genese des Kunstwerks als Bild einer Neuschöpfung



Ich bin daher der Meinung, dass man bei dem Versuch, das Kunstwerk zu definieren, einen Schritt weiter gehen muss, nämlich so, wie es Evgenij Kozlov ausführt: in den geistigen Prozess, der dem Produkt zugrunde liegt. Von dort aus kommt man zum Begriff der Neuschöpfung und der Genese des Kunstwerks als ihr Bild. Von dort aus lässt sich untersuchen, wie sich Original und Kopie zueinander verhalten. Auch wenn das in der Praxis unmöglich scheint: wir müssen das Kunstwerk in seiner Entstehung verfolgen, bevor wir uns mit seinem Gebrauchs- oder Tauschwert beschäftigen. Dann bekommen auch seine sozialen und ethischen Wirkungsmöglichkeiten eine andere Dimension.

Aus diesem Grund sind für uns Selbstzeugnisse der Künstler wichtig.

Evgenij Kozlov lebt mit dem Bild, Walter Benjamin schreibt über das Bild. Man könnte auch sagen, Kozlov nähert sich der Bildgenese empirisch, Benjamin nähert sich dem Kunstwerk mit seinen Überlegungen zur Aura theoretisch-spekulativ. Dass sich Benjamin der zu seiner Zeit tonangebenden marxistischen Auffassung verpflichtet fühlte, die eine jegliche geistige Schöpfung als „Überbau“, d. h. Funktion materieller Gegebenheiten[13] ansah, spielt in meinem Aufsatz keine Rolle, da das Problem, die Fähigkeit des Menschen zur geistigen Schöpfung irgendwo im „Weltgeschehen“ unterbringen zu müssen, kein spezifisches Problem des Marxismus ist, sondern ein Problem des Materialismus. Der Marxismus ist nur so inkonsequent, dass er dem „evolutionären“ Naturgeschehen Zweckgerichtetheit unterstellt; damit ist der Marxismus gewissermaßen der teleologische Zweig des Materialismus.

Der Materialismus ist seinem Grundsatz nach Nominalismus: er will die „real existierenden“ – das sind für ihn die für die Sinne wahrzunehmenden – Dinge benennen und steht daher dem schöpferischen „Ich“ als Tatbestand hilflos gegenüber, weil er seinem eigenen „Ich“ keinen materiellen Gegenstand zuordnen kann. Er muss aber „Ich“ und „Gehirn“ unterscheiden, wenn er sagt „Ich denke über mein Gehirn nach“. Die Hirnforschung kann jedoch nicht klären, in welchem Verhältnis das „Ich“ zum Gehirn steht. Es scheint zunächst einfach zu sein, das Ich als von der Materie „Gehirn“ erzeugt anzusehen. Dann steckt man aber in dem logischen Dilemma, dass das Ich, Funktion der Materie, über die Funktion der Materie nachdenkt. Andererseits – dass „Ich“ ohne Gehirn nicht von mir weiß, ist kein Beweis für die Identität von Gehirn und „Ich“, sondern nur dafür, dass mein Gehirn meinem „Ich“ zu einem Bewusstsein seiner selbst verhilft, so wie der Boden meinen Beinen zum Laufen hilft. Man wird ja nicht abstreiten können, dass man ein Bewusstsein seiner selbst sukzessive erlangt, dass „mir“ mein Ich zum Teil bewusst und zum Teil unbewusst ist. Somit kann man sagen, dass der dialektische Materialismus von Marx und Engels im Gegensatz zum „einfachen“ Materialismus kein Nominalismus ist, sondern Realismus, denn er setzt zu realen, sinnlich wahrnehmbaren Dingen auch reale – wirkende – Kräfte, die er allerdings der Bequemlichkeit halber aus den Dingen selbst hervorgehen lässt: sie treten „plötzlich“ auf[14]. Am eigenen „Ich“ hat der Marxist jedenfalls noch nicht gezweifelt. Für ihn tritt es unvermittelt in die Weltgeschichte ein, als Funktion der Materie, und davon ausgehend konnte er sich mit dem Bewusstsein, „das ich von mir habe“, als „Überbau“ beschäftigen.

Wenn ich also einige von Benjamins Thesen zur Kontrastierung der Formulierungen im Gespräch über die „Kunst der Zukunft“ benutze, so tue ich das, indem ich mich mit ihren direkten logischen Implikationen auseinandersetze: Benjamins Thesen sind meiner Meinung nach symptomatisch für die Schwierigkeiten, das Kunstwerk im Anschluss an seine Entstehung (als „Überbau“) hinreichend theoretisch-begrifflich zu bestimmen. Das Ungenügende dieser nachträglichen Erklärung des „ausgeschiedenen“ Gegenstandes hat Martin Heidegger stark empfunden, seine Schrift über den „Ursprung des Kunstwerks“ ist praktisch zeitgleich mit Walter Benjamins Essay entstanden.[15] Heidegger will den Entstehungsprozess flüssig halten, allerdings gelangt er vom „Werk“ ausgehend nur zum „Gewirkten“.[16] Mir kommt es darauf an, vom „Werk“ zum „Wirklichen“ zu gelangen, und zwar im Sinne einer anhaltenden Tätigkeit, wie es das Grimmsche Wörterbuch als ein spätmittelalterlich von „wirken“ abgeleitetes Verbaladjektiv beschreibt, „'handelnd, tätig' oder 'durch handeln geschehend, im tun bestehend'[17], somit als Synonym zu wirksam oder wirkend. Man kann dieser Bedeutung von „wirklich“ nachspüren, wenn man sich das Wort vorsagt. Dieses „Wirklich-Wirkende“ sehe ich einerseits in den Gedanken Evgenij Kozlovs formuliert, andererseits aber auch in seinem Werk anwesend.[18]

Das ist meine These: nur über das „Wirklich-Wirkende“ kommen wir zu einer Kunst der Zukunft. Ich will zeigen, dass auch Walter Benjamin dem Grunde nach eine solche geistige Anschauung von der Kunst hat, wenn er nämlich für das Kunstwerk den geschichtlich nicht zu begründenden und insofern völlig ahistorischen Begriff der „Aura“ einführt. Der Begriff der „Aura“ steht in eklatantem Widerspruch zu seinen Formulierungen einer zweckbestimmten Kunst, welche er meint, aus kunstpolitischen Gründen aufrechterhalten zu müssen.

Um meine These zu erläutern, werde ich mich nun detailliert mit den Äußerungen Walter Benjamins und Evgenij Kozlovs auseinandersetzen.



6.
Das „einmalige“ und das „vielmalige“ Auftreten des Kunstwerks



Walter Benjamin koppelt die Entwicklung des menschlichen Selbstbewusstseins an die Verfeinerung äußerer Mittel zur Herstellung des Bildes, doch hat seine zunächst einsichtige Überlegung methodische Konsequenzen. Weil er die Mittel betrachtet, die zur Produktion in Frage kommen, kann er nur die Tatsache feststellen, dass mit ihrer Hilfe etwas entstanden ist, aber nicht, welcher Impuls diesem Schaffen zugrunde liegt. Benjamins Ansatz ist deskriptiv, weil er das Kunstwerk als fertiges beschreibt. Die Relevanz eines Kunstwerks ist die Einmaligkeit seines Auftretens in einem bestimmten Augenblick – „die Einzigartigkeit des Kunstwerks ist identisch mit seinem Eingebettetsein in den Zusammenhang der Tradition“, sagt er.[19]

Damit fehlt Benjamin prinzipiell die Möglichkeit, ein Kunstwerk durch seinen inneren Aufbau von einem anderen Werk zu unterscheiden, welches kein Kunstwerk ist, denn die historische Betrachtung kennt lediglich zeitlich aufeinanderfolgende Geschehnisse: jede Einzigartigkeit ist eine „Einmaligkeit“, genauer: jede Einzigartigkeit ist die qualitative Betrachtung einer Einmaligkeit, aber eben zu diesem qualitativem Aspekt äußert sich Walter Benjamin nicht. Ein Kunstwerk kann somit allein über seinen Gebrauchswert definiert werden: hat der Gegenstand einen Kultwert? einen Ausstellungswert? einen agitatorischen Wert? Wenn die Antwort „ja“ lautet, so handelt es sich um ein Kunstwerk.

Im Unterschied dazu definiert Evgenij Kozlov die Einzigartigkeit des Kunstwerks über den Prozess, aus dem heraus es entsteht, über den inneren Zustand, den der Künstler in sich heranmodelliert: „Primär ist jedoch, was im Inneren des Menschen vorgeht. Und dabei ist wichtig, dass sich dieser innere Zustand stets aufs Neue schafft. Deswegen werden auch jedes Mal ganz andere Kunstwerke daraus, und deswegen ist es seltsam, warum so viele Künstler immer im selben Stil arbeiten.“[20]

Wenn Evgenij Kozlov sagt, dass der Vorgang, aus dem heraus das Kunstwerk entsteht, sich jedes mal neu schafft, das heißt auf neue, auf andere Weise, so ist dies zwar auch eine deskriptive Aussage, da sie die Wahrnehmung eines Prozesses beschreibt. Wahrgenommen wird aber die Dynamik des Entstehens aus der inneren Perspektive heraus, nicht erst die äußeren Manifestationen. Das hat Folgen für die Vorstellungen bezüglich dessen, was die Kunst in der Zukunft sein wird. Für Benjamin gilt, komprimiert gesagt, die Feststellung, dass das, was gestern war und heute ist, auch in Zukunft Bedeutung hat: das Kunstwerk wird Gebrauchsgegenstand bleiben, nur wird der Gebrauch ein anderer sein. Kozlov sieht eine neue, radikal verschiedene Entwicklung, die sich bereits heute abzeichnet und die letztlich dazu führt, dass es für den Menschen keine äußeren Formen des Ausdrucks mehr geben wird – und damit auch kein Kunstwerk –, sondern nur noch innerliche: „Dann kommt der Moment, wenn [das, was im Innern vorgeht] nicht mehr visuell fixiert zu werden braucht, weil man es einander bereits innerlich übergeben kann.[21] Damit entfällt der gesamte Kontext des Gebrauchs und jede Sorge bezüglich eines Tauschwerts.

 

Wir haben hier konträre Auffassungen davon, was die Zukunft des Kunstwerks betrifft. Aussagen, die über zukünftige Entwicklungen getroffen werden, können für uns nur hypothetisch sein; sie gewinnen ihre Glaubwürdigkeit erst aus dem Zusammenhang, in dem sie stehen, und aus ihrer inneren Folgerichtigkeit, die wir objektiv nachvollziehen können.



7.
Die lebendige Erkenntnis



Während Walter Benjamins Aussagen dadurch Autorität gewinnen, dass sie in ein uns vertrautes evolutionäres Entwicklungsmodell des Menschen eingebettet sind, welches die fortschreitende Erkenntnis durch die Verfeinerung der technischen Mittel gegeben sieht, beruft sich Evgenij Kozlov auf Erkenntnisse, die er „als Informationen empfängt“. Diesen Informationen könnte man jeglichen Realitätsgehalt absprechen, wenn nicht die außergewöhnlich intensive Wirkung seiner Werke bereits die Frage nach der Quelle seiner Inspiration aufwerfen würde.

Für mich selbst stellte sich diese Wirkung so ein, dass es mir unmöglich war, die extrem elegante, harmonische und neuartige Lebendigkeit seiner Bilder konventionell zu erklären – etwa als Resultat einer gedanklichen Auseinandersetzung mit einem Thema, als Abbildung einer Sache oder als psychologische Erfassung eines Problems. Sie übersteigt in ihrer Komplexität die Realität der uns vertrauten Welt, gleichzeitig fühlen wir uns nicht fremd in ihr, sondern hineingezogen wie in ein zukünftiges Geschehen.

Mit anderen Worten, genau das, was Walter Benjamin beim Betrachten des Tafelbilds vermisst, die Unmittelbarkeit einer lebendigen Erfahrung, die gleichzeitig eine Erkenntnis ist, empfinde ich beim Anblick dieser Bilder. Die Lebendigkeit der Erfahrung speist sich aus der Art und Weise, wie die einzelnen figurativ-abstrakten Elemente des Bildes trotz ihres artifiziellen Charakters die Gesamtkomposition ohne jeden Anschein von Willkür erzeugen. Durch eine solchermaßen „künstliche Natürlichkeit“ werden diese Elemente zu handelnden Figuren. Der Betrachter wiederum nimmt an diesen Handlungen teil.[22] Eine Erkenntnis ist diese Erfahrung, weil die Symbolik, die Evgenij Kozlov in seinen Werken und für seine Werke entwickelt, nur soviel aus der sinnlichen Welt mitnimmt, dass ihre Verbindung zu dieser sinnlichen Welt gerade noch gegeben ist. Die Erscheinungsform dieser Symbole basiert aber ganz offensichtlich auf einer Art von erweitertem Wissen, denn aus ihnen spricht Klugheit, und das gilt auch für die Art und Weise, wie diese Symbole miteinander agieren. Dieses Wissen vermittelt sich uns als Erkenntnis, allerdings nicht als begriffliche Erkenntnis, sondern als durch Farben und Formen stimulierte Erkenntnis.

Ich will versuchen, diese Wirkung am Beispiel eines Gemäldes von Evgenij Kozlov aus dem Jahre 1990 zu skizzieren, dem Jahr meiner Bekanntschaft mit dem Künstler. Der Titel des Bildes ist „Die Energie und Stärke der Frauen“. Das Gemälde hat die Maße 150 x 100 cm und ist in der Technik Öl auf Leinwand ausgeführt. mehr >>

Die Komposition wird beherrscht durch eine weibliche Figur, die sich nach vorne beugt zu einer wesentlich kleineren männlichen Figur, welche sich, von ihr abgewandt, mit der rechten Hand auf einen Stock stützt. Beide betrachten wir von vorne. Die weibliche Figur scheint die männliche Figur in Kopfhöhe an einer Art von Seil zu halten oder zu stabilisieren. Die männliche Figur hat aber kein Bewusstsein von diesem Geschehen. Ihr Blick richtet sich zu Boden in Richtung des Stocks, ganz so, als ob sie blind sei und sich vom Stock führen ließe. In der vorderen Bildebene, am linken unteren Bildrand, befindet sich eine weitere, sehr kleine männliche Figur, die mit einem schweren Korb beladen aus dem Bild hinausschreitet.

Das Wesentliche der Komposition ist aber die auf merkwürdige Art bestimmte und gleichzeitig ungewöhnliche Weise, wie die einzelnen Figuren zueinander in Beziehung gesetzt sind. Die unterschiedlichen Größen, die sie im Bild einnehmen, bestimmen sie als Angehörige verschiedener Welten, die aber dennoch miteinander verbunden sind, denn es gibt eine Gesamtperspektive. Allerdings liegt der Fluchtpunkt beim Betrachter: die Figuren werden von der vorderen zur hinteren Bildebene nicht kleiner, sondern größer, und die Bildebenen streben sukzessive auseinander. Dabei machen sie sich transparent und füllen sich mit der räumlichen Tiefe des blauen Hintergrundes. In die Bildebenen hineinverwoben sind zahlreiche abstrakt-geometrische bis realistische Elemente (Rosen, Girlanden, Halbkreise u. a.), die die Unruhe verstärken, welche durch die Auflösung des Bildinhalts entsteht. Diese Unruhe erhält durch die lineare Anordnung wesentlicher Bildelemente – horizontal, vertikal, diagonal – ihren Ausgleich. Der Kreuzungspunkt der bestimmenden horizontalen und vertikalen Linien im unteren Viertel der Komposition bildet den Schwerpunkt des Bildes. Unruhe und Ruhe sind in Balance gebracht.

In dieser Lebendigkeit der Komposition liegt das Wissen um das künstlerische Vorgehen. Bezogen auf das Sujet ist es gestalterische Intelligenz, die Tiefe des Ausdrucks der Bildfiguren, die sich in Haltung und Gesichtsausdruck manifestiert. In Hinsicht auf die Technik ist es die Sicherheit und Virtuosität im Umgang mit einer großen Bandbreite an stilistischen Mitteln, von figurativ bis abstrakt. Schließlich ist es die differenzierte Verwendung der Farben, die einen höchst nuancierten Gesamteindruck des Werkes hervorruft. Die bestimmenden Farben sind blau, gelb, rot in verschiedenen Tönen. Aus den Farben heraus werden die verschiedenen Ebenen des Bildaufbaus geschaffen, durchbrochen, schattiert. Das verleiht der Darstellung ihre ausgesprochen plastische Wirkung und eine strahlende Stille.

Für mich war klar, dass derjenige, der ein solches Werk geschaffen hatte, wissen musste, was künstlerische Ausdrucksmittel bewirken können, und auch in der Lage war, das, was er schaffen wollte, in die Realität zu führen. Hierin liegt auch, ganz generell gesprochen, der Unterschied zu den Imaginationen all dessen, was man mit dem Begriff des Surrealismus zusammenfassen kann: die Künstler des Surrealismus greifen auf Traumbilder oder Bilder zurück, die unter Ausschaltung des Bewusstseins entstanden sind. Dadurch eignet ihren Bildern bei aller Genialität etwas Verlorenes, Entrücktes, Unbestimmtes, Fragmentarisches. Hier ist der Mensch, und dort ist sein Unbewusstes, das in ihm heraufquillt. Bei Evgenij Kozlovs Bildern hat man diese Empfindung nicht. Seine Bilder versammeln nicht Bruchstücke, Erinnerungsfetzen, die das sogenannte Unbewusste hinauswirft. Seine Bilder existieren nicht getrennt von der Realität oder über der Realität, sondern sie erweitern die Realität um ein Wissen, das wir anhand von Symbolen und Beziehungen erkennen, die allerdings zu dieser Realität hinzugeschaffen werden und begrifflich schwer zu bestimmen sind.

Hierin liegt die eigentliche Leistung des Künstlers: im Schaffen neuer Symbole und Beziehungen, wenn das vermeintlich Bekannte mit Hilfe der künstlerischen Gestaltung eine erweiterte Bedeutung erhält. So „erinnern“ die Figuren auf dem Bild zwar an menschliche Figuren. Sie haben dieselben Proportionen, dieselben äußeren Merkmale der Gestaltung. Doch die farbliche Behandlung der Körper mit den rot-braunen Kontrasten der Hauptpartien, das Durchbrechen und Anschneiden der äußeren Formen, die teilweise Transparenz der Gliedmaßen, welche tieferliegende Schichten freilegt, sowie die komplexen Bezüge dieser Symbole zueinander – all das führt in eine andere Wirklichkeit. Und obwohl sich diese Wirklichkeit schwer mit Worten beschreiben lässt, ist sie sehr präzise, scharf umrissen und ausgesprochen präsent. Diese Wirklichkeit äußert sich im Bild als neuer Sinn.

Ein Bild, das einen Sinn besitzt, ist eine Komposition im Sinne eines bewussten Handelns. Es hat seinen Ursprung nicht im Vergangenen, nicht in einem Erinnerungswissen, sondern in einer anderen Qualität des Wissens. Man könnte es als doppeltes Wissen bezeichnen: „Ich weiß das Wissen“, hat es Evgenij Kozlov im Jahr 2012 ausgedrückt.

Man kann sich keinen größeren Gegensatz zu dieser Aussage denken als die, mit der Gerhard Richter häufig zitiert wird und die den Titel eines Films von 1992 über den Künstler bildet: „Meine Bilder sind klüger als ich”. Solchermaßen eingeschränkt, ist Gerhard Richter auf den mechanischen Zufall der Technik angewiesen, um zu einem ihn befriedigenden Ergebnis zu gelangen, wenn er nach der Abgeschlossenheit des Bildes, seiner Harmonie strebt. Evgenij Kozlov ist auf den Zufall nicht angewiesen. Wo er ihn nutzt, kann er ihn steuern, um die Rolle eines Einzelelementes für die Komposition zu bestimmen.

Dadurch hat er andere Möglichkeiten, die Elemente des Bildes in eine Gesamtharmonie zu integrieren als Gerhard Richter. Das gilt insbesondere für vielfigurige Kompositionen, die einen großen Teil von Kozlovs Œuvre ausmachen. Sie sind in der Tat komponiert. Gerhard Richters kompositorische Leistung beruht auf der Festlegung des Bildausschnittes einer Fotografie. Er bleibt aber im Gemälde der Anordnung der Figuren, wie sie durch die Fotografie vorgegebenen ist, verhaftet. In seinen gegenständlichen Bildern überwindet er die Vorlage nur stilistisch, nicht aber thematisch. Deshalb ist Richters Problem die Behandlung der Vorlage, von der er sich erst mit seinen abstrakten Bildern befreien kann. Der Wiedererkennungseffekt ist bei Richters gegenständlichen Bildern jederzeit gegeben. Eben darin liegt die Popularität seiner Portraits wie des berühmten Portraits seiner Tochter „Betty”, dass er sich auf Vertrautes beruft, dass er keine neuen Symbole schafft und damit auch keine neuen Inhalte, sondern nur einen neuen Stil des Impressionismus’. Mit der Technik des Verwischens legt er einen Schleier über die unmittelbare Wahrnehmung, die er sich mithilfe von Fotografien erst einmal verschafft. Deshalb sind seine Bilder „klüger als er”, weil er doch von der sinnlichen Wahrnehmung der Realität ausgehen muss, die ihn als Inhalt der Welt nicht befriedigen kann.

Im Gegensatz dazu ist die Klugheit, die aus dem Gemälde „Die Stärke und Energie der Frauen“ spricht, weder Ergebnis eines mechanischen Zufalls noch eines handwerklichen Geschicks. Sie beruht auf der Fähigkeit des Künstlers, in sich eine innere Harmonie hervorzurufen, in der ein Wissen zustande kommt. Wenn ich weiß, was ich tue, kann ich auch Verantwortung für mein Handeln übernehmen. Darauf beruht die „Stärke und Energie“ dieses Bildwerks, die sich im Bildtitel wiederfindet. (Ergänzend sei gesagt, dass zur „ Stärke und Energie der Frauen“ von 1990 die „Stärke und Energie der Männer“ von 1991 gehört.)

Daher war nicht das Kunstwerk als solches mit einer möglichen inhaltlichen Interpretation für mich Anlass zum Gespräch über die „Kunst der Zukunft“, obwohl diese Interpretation selbstverständlich auch von Interesse ist, sondern vielmehr die weit grundsätzlichere Frage, aus welchen Impulsen heraus ein solches Werk entsteht.



8.
Der bewusste Schaffensprozess



Die Frage nach diesem Schaffensprozess bedingt zunächst, dass die Erfahrungen des künstlerischen Erlebens, die in den Antworten vermittelt werden, als reale, das heißt, objektive aufgefasst werden. Mit „objektiv“ ist hier gemeint, dass im Gespräch über „Die Kunst der Zukunft“ Einwirkungen beschrieben werden, die für den Künstler so objektiv gegeben sind wie Wahrnehmungen der äußeren Sinne, beispielsweise der Nässe, die man auf der Haut verspürt, wenn es regnet. Mit anderen Worten, der Künstler erlebt diese Einwirkungen als von außen kommend, nicht vom ihm selbst produziert, das ist ihr objektiver Charakter. Die Voraussetzung für eine solche Erfahrung ist allerdings, dass der Künstler in der Lage ist, sich für diese Wahrnehmungen die inneren Organe zu schaffen, denn „Grundlegend für diesen schöpferischen Prozess ist, dass der Mensch die Kräfte, die ihm dabei helfen, in seiner inneren Welt die neue Kunst zu schaffen, fühlen und sehen muss“.[23]

Eine andere Sache ist, was aus den Einwirkungen folgt, wie sie umgesetzt werden. Ich habe oben die Charakteristik eines Werkes von Evgenij Kozlov umrissen, sie entspricht – vom Betrachter aus gesehen – dem subjektiven Ausdruck des Künstlers. Für einen solch differenzierten Ausdruck ist es notwendig, dass, um beim Beispiel der Nässe zu bleiben, der Regen eine Einwirkung hat, die über die Wirkung des Nass-Seins hinausgeht. Ich höre das Geräusch des Regens; die Art und Weise, wie der Regen fällt, wirkt dann als eine Kraft, die mir etwas von den geistigen Vorgängen in der Welt mitteilt, sie „spricht“ zu mir. Die Kraft, die sich im Geräusch des Regens manifestiert, in seiner Melodie, seinem Auf- und Abschwellen, geht eine unmittelbare Verbindung mit mir ein, die in mir feinste Empfindungen hervorruft, welche sich zu Bildern umgestalten. Diese Bilder sind für den Betrachter die subjektive Angelegenheit des Künstlers, während sie für den Künstler selbst einen höheren Grad der Folgerichtigkeit oder Objektivität haben: sie sind subjektiv-objektiv, weil sich die Wahrnehmung von etwas objektiv Geschehenem in ihnen erhält. Täte sie das nicht, so wäre es für den Künstler ein Schaffen aus der reinen Subjektivität, das heißt, aus Willkür.

Gehen wir nun davon aus, dass Aussagen, die Evgenij Kozlov über den Schaffensprozess trifft, aus einem realen Erleben heraus gemacht werden, so können wir diesen Aussagen eine gewisse Verbindlichkeit zuschreiben. Damit kommen wir zum eigentlichen Thema des Gesprächs, zur Kunst der Zukunft. Im Kern bringt der Künstler im Gespräch zum Ausdruck, dass die Vorgänge, die bei ihm bereits heute den Schaffensprozess zu einem bewussten machen, in Zukunft für alle bewusst erlebbar sind und letztendlich dazu führen werden, dass die äußeren Formen des Ausdrucks gänzlich verschwinden, weil sie nicht mehr notwendig sein werden für die Kommunikation zwischen den Menschen. Schließlich verschwindet auch die äußere Form des Menschen selbst: „Dann kommt der Moment, wenn es nicht mehr visuell fixiert zu werden braucht, weil man es einander bereits innerlich übergeben kann. Das wird dann der nächste Sprung in der Entwicklung der menschlichen Zivilisation sein, wenn man sich auf der Ebene des inneren Gesprächs unterhalten kann. [...] Die äußeren Formen des Ausdrucks bleiben trotzdem, genauer gesagt, sie bleiben solange bestehen, wie die äußere Hülle des Menschen existiert, sein Körper, seine Augen, Hände etc. Aber letztendlich geht der Mensch doch über zu den nächsten Arten von Energie: er wird dann keine Hülle mehr haben.“[24]

Dies ist eine Voraussage, der man selbstverständlich aus den verschiedensten Gründen heraus skeptisch gegenüberstehen kann. Sie gewinnt an Interesse durch die Tatsache, dass wir uns davon überzeugen können, dass ein höchst professioneller Künstler in der Lage ist, sich selbst gegenüber bis zu einem hohen Grad Rechenschaft von seinen Tun abzulegen: das heißt, gewisse Vorgänge, die bislang unbewusst blieben, ins Bewusstsein zu heben.

Wenn man nun den Focus dieser Untersuchung auf die Frage legt, ob technische Mittel in der Kunst primär oder sekundär sind, so geht aus der Tatsache, dass Evgenij Kozlov sie als sekundär betrachtet – vielleicht gerade deswegen, weil er sie virtuos handhaben kann – keineswegs hervor, dass er ihnen die Bedeutung abspricht. Im Gegenteil, die Überlegung, weshalb die technische Umsetzung der inneren Impulse für diese inneren Impulse notwendig ist, um sie gänzlich zur Erscheinung zu bringen, wird im Gespräch entwickelt, wenn es darum geht, auf welche Weise die Wahrnehmung oder „Information“ zu einer für den Menschen bewussten werden kann:

„E: [...], ich glaube eher, sie ist nicht einmal genau in diesem Moment geboren worden, als ich sie erhalten habe. Ich glaube, sie lag schon in der Luft.

H: Das heißt, sie existierte schon vorher.

E: Ja, sicher. Vermutlich lag sie schon in der Luft. Deshalb könnte es übrigens wichtig sein, sie auszusprechen, das heißt, sie in einer dem Menschen verständlichen Form zu fixieren.“[25]

Das Aussprechen ist wie die Umsetzung der Information im Bild für die Ebene des Bewusstseins notwendig. Eine neue Information wird auch neue Formen des Ausdrucks suchen.



9.
Der wissenschaftliche Wert als Gebrauchswert des Kunstwerks



Walter Benjamin verfolgt bei der Frage nach der Relevanz eines Kunstwerks einen anderen Ansatz. Indem er vom sinnlich wahrnehmbaren Kunstwerk ausgeht, bestimmt er seine Relevanz historisch. Wir verlassen hier den Bereich des Kunstschaffens und begeben uns in den Bereich der Kunstgeschichte. Ich will Benjamins Gedanken an dieser Stelle etwas ausführlicher erläutern.

Das Kunstwerk hat in seiner Zeit einen bestimmten Gebrauchswert; für den Kunsthistoriker hat es dadurch geschichtlichen Wert. Man könnte auch sagen, es tritt an die Stelle unseres Gedächtnisses. Vom ursprünglichen Gebrauchswert, den das Kunstwerk im Kult hatte, hat es sich nach Benjamin emanzipiert. Wenn das Kunstwerk seine Berechtigung behalten will, benötigt es einen neuen Gebrauchswert. Die neuen Techniken von Film und Fotografie erlauben beide durch den genauen Blick eine analytische Sichtweise: sie sind damit der Realität näher als die Malerei. Benjamin vergleicht diese Techniken mit dem Eingriff, der durch die Hand des Chirurgen erfolgt, im Unterschied zum magischen Heilen durch Handauflegen, welches der Malerei entspricht .[26] Somit kann das Kunstwerk eine neue Funktion erhalten, wenn seine künstlerische Form eine wissenschaftliche Verwertung gestattet: „Es wird eine der revolutionären Funktionen des Films sein, die künstlerische und wissenschaftliche Verwertung der Photographie, die vordem meist auseinander fielen, als identisch erkennbar zu machen.[27]

Was Benjamin im Kunstwerk sucht, ist wissenschaftliche Wahrheit durch den künstlerischen Blick vermittelt. Die höherstehende Technik löst die ältere ab. „Viele Kunstformen sind entstanden und sind vergangen. [...] Die Tafelmalerei ist eine Schöpfung des Mittelalters, und nichts gewährleistet ihr eine ununterbrochene Dauer.“[28] Das Tafelbild wird durch die Fotografie obsolet.

Anders Evgenij Kozlov im Gespräch von 1991. Für ihn ist die Verständlichkeit (und das heißt, die Berechtigung) des Kunstwerks keine Frage der Technik, weil sie allein schon dadurch gegeben ist, dass das Kunstwerk geschaffen wurde: „Das Kunstwerk ist fertiggestellt und somit auf Verständlichkeit programmiert. Umgekehrt kann man sagen, es konnte deshalb fertiggestellt werden, weil schon ein potentielles Verständnis dafür existiert, das heißt, wenn es nicht sofort verstanden wird, dann später.“[29] Die visuelle Form des Kunstwerks, in welcher Technik auch immer ausgeführt, nennt er den „klassischen“ Ansatz: „Das Fixieren bedeutet aber, wie wir bereits festgestellt haben, die klassische Form der Kunst. Mit anderen Worten, jegliche Kunst der Gegenwart und der Zukunft, die mit den Händen fixiert wird, einschließlich aller ‑ismen, die schon entstanden sind oder noch entstehen, gehört zu Klassik.“[30] Mit dieser Aussage korrespondiert die Tatsache, dass der Künstler einen Zyklus aus den Jahren 1989-90 „Die Neue Klassik“ benannt hat. Für ihn liegt die neue Funktion des Kunstwerks daher nicht in den Bereichen, die sie mit Hilfe einer neuen Technik erreichen könnte, sondern vielmehr in dem, was die Kunst als „empfangene Information“ im Menschen innerlich an neuen Entwicklungen auslöst, und zwar noch vor ihrer äußerlichen Manifestation als Kunstwerk. Ihr diese äußerliche Manifestation, „die visuelle Form zu geben, ist die Aufgabe des Künstlers.“[31] Der Betrachter erfährt am Kunstwerk nicht wissenschaftliche Wahrheit, Aufklärung über die äußere Welt, wie Benjamin sich vorstellt, sondern dieses dient ihm dazu, seine eigene innere Welt zu entwickeln, nämlich mithilfe des künstlerischen Ausdrucks, der dem Werk innewohnt. Deshalb ist das Kunstwerk in seiner Wirkung nicht auf eine historische Periode beschränkt. Man darf sicherlich annehmen, dass die Wirkung, die es entfaltet, zu unterschiedlichen Zeiten eine jeweils andere ist, aber die Wirkung ist auch innerhalb einer Zeit individuell verschieden. Aus dieser Sicht ist die Einzigartigkeit des Kunstwerks nicht identisch mit dem Eingebettetsein in den Zusammenhang mit der Tradition, sondern im Gegenteil identisch mit seiner Fähigkeit, über seine historische Geburt hinaus Wirksamkeit zu entfalten, sein „Bett“ zu verlassen.

Indem Walter Benjamin den Gebrauchswertes eines Kunstwerkes mit seinem  wissenschaftlichen Wert verbinden will, fehlt ihm der Sinn für eine eigenständige Funktion der Kunst. Dies will nicht sagen, dass Walter Benjamin nicht künstlerisch empfindet – im Gegenteil, wenn er kein Empfinden für den künstlerischen Ausdruck hätte, würde er sich nicht mit dem Gegenstand auseinandersetzen. Doch verfügt er über keinerlei Argumente zugunsten einer Eigenständigkeit der Kunst. Verbindet man jedoch die Kunst mit einer Aufgabe aus einem anderen Bereich, sei es der Naturwissenschaft, sei es der Politik oder Agitation, wie sie Benjamin auch vorschwebt (als schwerste und wichtigste Aufgabe bezeichnet er zum Schluss seines Aufsatzes, die Massen zu mobilisieren[32]), so degradiert man sie zwangsläufig zum Hilfswerkzeug oder zum Werbeträger. Es ist ja durchaus richtig, dass sich die Kunst aus dem kirchlichen Kult emanzipiert hat. Doch wenn Benjamin sagt „die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks befreit dieses zum ersten Mal in der Weltgeschichte von seinem parasitären Dasein am Ritual“[33], so ist die Frage, ob es im Kult nicht sehr viel besser seine eigentliche – künstlerische – Funktion ausübte als in dem Bereich, den Benjamin in erster Linie für das Kunstwerk vorsieht: im nicht weniger parasitären Dasein an der Wissenschaft. Konsequenterweise behauptet Benjamin, die Kunst habe den „Schein der Autonomie“[34] verloren und setzt „eine Anzahl überkommener Begriffe – wie Schöpfertum und Genialität, Ewigkeitswert und Geheimnis – beiseite“[35], das heißt, er schafft sie ab.



10.
Künstlerische Wahrheit, wissenschaftliche Wahrheit



Demgegenüber betont Evgenij Kozlov die Eigenständigkeit der Kunst. Diese Eigenständigkeit ist alles andere als eine Funktionslosigkeit, denn nach seiner Auffassung spielt die Kunst in der weiteren Entwicklung des Menschen eine Rolle, die von keiner anderen Tätigkeit übernommen werden kann. In der Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk geht es für den Betrachter gar nicht in erster Linie darum, dass er die Welt des Künstlers nachempfindet oder interpretiert, sondern dass er „sich sicher [wird] seiner eigenen Kunst, seines eigenen Schaffens, das er in sich trägt“[36]. In dieser Beziehung gibt es eine gewisse Übereinstimmung zwischen Benjamin und Kozlov: die Vorstellung nämlich, dass in Zukunft notwendig und richtig ist, dass jedes Individuum sein schöpferisches Potential entwickelt. Während Walter Benjamin sein Augenmerk auf die technischen Möglichkeiten der Massenproduktion legt, die es dem einzelnen gestatten sollen, sich selbst darzustellen (als Arbeiter im Film), vom Konsumenten zum Sachverständigen zu werden (vom Leser zum Autor), geht es Evgenij Kozlov um die Art und Weise, wie das Individuum seinen Ausdruck gestaltet, indem es sich nämlich „maximal verschieden vom andern“[37] entwickelt. Das ist aber das Gegenteil der wissenschaftlichen Erkenntnis, welche Benjamin der Kunst zur Aufgabe machen will, denn die Wissenschaft sucht die Wahrheit in der Einheitlichkeit der Erkenntnis, nicht in der maximalen Verschiedenheit der Erscheinungen.

Ich will diesen Unterschied zwischen der künstlerischen Wahrheit und der wissenschaftlichen Wahrheit kurz skizzieren, da ich der Meinung bin, dass er zu wenig bewusst ist. Man benötigt aber eine gewisse Einsicht in diesen Unterschied und die Besonderheit der künstlerischen Wahrheit, um Evgenij Kozlov in seinen Aussagen folgen zu können. Dazu berufe ich mich wieder auf Goethe und Schiller, insbesondere auf den grundlegenden Begriff des „Scheins“ – des „schönen Scheins“, wie ihn Schiller in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen[38] entwickelt hat und des „Scheins des Wahren“ in Goethes Aufsatz „Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke“[39]. Beide Schriften sind Ende des 18. Jahrhunderts geschrieben worden, als das Problem einer theoretischen Fundierung der Kunst zum ersten Mal entstand, und beschreiben sehr klar deren eigenständige Aufgabe. Schon damals gab es Tendenzen, von einer einzigen Wahrheit zu sprechen und wie Friedrich Schlegel die Kunst der Wissenschaft zuzuordnen. Schiller und Goethe haben das nicht getan. Vielleicht liegt es daran, dass beide selbst wissenschaftlich gearbeitet haben: Schiller als Arzt und Historiker, Goethe als Naturwissenschaftler.

Voraussetzung für die folgenden Überlegungen ist der Gedanke, dass die Suche nach Wahrheit beginnt, wenn der Mensch sich selbst als entfernt oder entfremdet empfindet von dem, was ihn umgibt. Diese Diskrepanz empfindet er, sobald er ein Bewusstsein seiner selbst erhält (mit dem Sündenfall); das Bewusstsein ist jedoch gleichzeitig das Mittel dafür, diese Diskrepanz zu überwinden. Goethe sagt: Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur Außenwelt, so heiß ich's Wahrheit. Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben, und es ist doch immer dieselbige.“[40]

Um dieses Verhältnis kennenzulernen, stehen dem Menschen zwei Ansätze zur Verfügung. Beide decken die Wahrheit nicht als etwas Vorhandenes auf, sondern schaffen sie mit produktiver Gedankenkraft.

Der erste Weg ist der Weg der wissenschaftlichen Wahrheit.

Die wissenschaftliche Wahrheit sucht das, was hinter den Erscheinungen liegt. Ihre Aufgabe ist es, die Täuschung fortzuschaffen, der wir im Hinblick auf unsere Vorstellung von der Welt unterliegen, wenn wir die sinnlichen Erscheinungen ohne Erkenntnis auf uns wirken lassen, ungeordnet, und ihren Zusammenhang nicht verstehen. Dazu bedient sie sich gewisser analytischer Methoden. Eine Verfeinerung der sinnlichen Wahrnehmung ist für die Analyse daher zu Recht ein Fortschritt. Ausschlaggebend ist, dass die wissenschaftliche Wahrheit an der Gesamtheit der Einzelerscheinungen gewonnen werden muss. Schiller schreibt dazu an Goethe am 23. 8. 1794: „Lange schon habe ich, obgleich aus ziemlicher Ferne, dem Gang Ihres Geistes zugesehen, und den Weg, den Sie Sich vorgezeichnet haben, mit immer erneuerter Bewunderung bemerkt. Sie suchen das Notwendige der Natur, aber Sie suchen es auf dem schwersten Wege, vor welchem jede schwächere Kraft sich wohl hüten wird. Sie nehmen die ganze Natur zusammen, um über das Einzelne Licht zu bekommen; in der Allheit ihrer Erscheinungsarten suchen sie den Erklärungsgrund für das Individuum auf.“[41] Goethe selbst bringt es in seinem Fragment „Die Natur“ auf den Punkt: „Sie scheint alles auf Individualität angelegt zu haben und macht sich nichts aus den Individuen.“[42]

Das Ziel der wissenschaftlichen Wahrheit ist somit die Gewinnung von zugrundeliegenden Prinzipien, die Synthese der sinnlichen Erscheinungen in der Idee.[43]

Der zweite Weg ist der Weg der künstlerischen Wahrheit.

Die künstlerische Wahrheit orientiert sich an der Empfindung für das Potential der Form. Nicht das Gewordene ist ihr Gegenstand, sondern das, was sein könnte oder hätte sein können „nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit“, wie es Aristoteles formulierte[44], allerdings im Hinblick auf die Dichtkunst, nicht auf die bildende Kunst. Das Gewordene besitzt ja nicht die Harmonie oder Ästhetik der Form, die der Künstler für möglich hält. Er überwindet die Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Form und der möglichen Form, indem er die tatsächliche Form idealisiert. Goethe erinnert sich im 18. Buch von „Dichtung und Wahrheit“ an einen Ausspruch von Merck, der ihm viel bedeutete: „,Dein Bestreben’, sagte er [Merck], ,deine unablenkbare Richtung ist, dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben; die andern suchen das sogenannte Poetische, das Imaginative, zu verwirklichen, und das gibt nichts wie dummes Zeug.’[45]

Mit dieser Tätigkeit fällt der Mensch aber nicht aus der Natur: Goethe betrachtet ihn vielmehr als den Gipfel der Natur, in dessen Aufgabe es gestellt ist, ihrem Potential mithilfe der Kunst eine ästhetische Richtung zu geben. In seinem Aufsatz über Winckelmann heißt es: „ ... das letzte Produkt der sich immer steigernden Natur ist der schöne Mensch. Zwar kann sie ihn nur selten hervorbringen, weil ihren Ideen gar viele Bedingungen widerstreben, und selbst ihrer Allmacht ist es unmöglich, lange im Vollkommnen zu verweilen und dem hervorgebrachten Schönen eine Dauer zu geben. Denn genau genommen kann man sagen, es sei nur ein Augenblick, in welchem der schöne Mensch schön sei. Dagegen tritt nun die Kunst ein, indem der Mensch auf den Gipfel der Natur gestellt ist, so sieht er sich wieder als eine ganze Natur an, die in sich abermals einen Gipfel hervorzubringen hat.[46]

Ohne Kunst kann in der Natur Schönheit im Sinne einer höheren Erscheinung nicht auf Dauer zustande kommen, weil, wie oben zitiert, „ihren Ideen gar viele Bedingungen widerstreben“.[47] Der Wunsch nach Schönheit entspricht aber einem menschlichen Verlangen.

Die Ästhetisierung erfolgt immer an der Einzelerscheinung. Die Figur der Maria Stuart ist bei Schiller anders entwickelt als im Film „Gunpowder, Treason and Plot“ von 2004. Das hat selbstverständlich seine Berechtigung. Denn die künstlerische Wahrheit ist als poetische Gestalt der Wirklichkeit ein anderer Ausdruck für Harmonie. Damit erfährt sie ihre jeweils individuelle Ausprägung: soviele Künstler es gibt, soviele Vorstellungen von der Stimmigkeit des Möglichen. Deshalb besitzt die künstlerische Wahrheit einen unendlichen Reichtum an Formen und ist nicht kalkulierbar. Ihre Logik ist insofern objektiv, als der Betrachter sie nachvollziehen kann oder in Zukunft nachvollziehen wird.

Damit wird es in Zukunft einfacher sein, Kriterien für die Höhe eines bestimmten Kunstwerkes zu finden – möglicherweise so, wie es Evgenij Kozlov formuliert hat: „Ein Meisterwerk zeichnet sich dadurch aus, dass in es eine ungeheure Energie gelegt wurde, eine riesige Masse dieses – inneren Zustandes, so viel wie möglich, so dass eine große Anzahl von Menschen, jede Person, die es sieht, dank dieser großen Energie und dieser Masse des inneren Zustandes des Künstlers fähig ist, sich selbst maximal weiterzubewegen. Das ist nicht sehr geschickt ausgedrückt, aber im Wesentlichen geht es darum.[48]

Wir fassen zusammen.

Der Wissenschaftler begnügt sich nicht mit den Erscheinungen, er stellt neben die Erscheinungen noch die Idee. Die wissenschaftliche Wahrheit synthetisiert die Erscheinungen, führt zum allgemeinen Prinzip, zur Einheit. Der Künstler begnügt sich auch nicht mit den Erscheinungen, aber er formt sie um, und zwar mit seiner Idee der Harmonie. Dadurch idealisiert und individualisiert er die Erscheinungen: die künstlerische Wahrheit führt zur Vielfalt. Der Künstler nimmt die Idee, um die vorgefundene Form zu vertilgen, wie Schiller sagt. Dadurch macht er das Natürliche (im Sinne eines Gegebenen) unnatürlich, aber er darf das, weil seine Schöpfung ein künstlerischer Schein der Realität ist. Der Künstler täuscht, aber er betrügt nicht, weil er nicht behauptet, dass er die wirklichere Realität schafft. Wenn der Wissenschaftler die Idee nutzt, um etwas zu schaffen, stellt er keinen Schein her, sondern eine Realität. Die Realität verpflichtet, der Schein nicht. Deshalb gibt es Freiheit nur im Bereich der Kunst, denn nur da, wo der Mensch den „schönen Schein“ schafft, kann er frei schaffen.

Welchen Nutzen hat diese Freiheit, wenn die Kunst nur Schein schafft? Der Schein ist nicht wirkungslos. Er befähigt zum schöpferischen Wachstum. Die Kunst wirkt auf den, der sie schafft, und auf den, der sich mit ihr beschäftigt, zurück. Evgenij Kozlov stellt fest: „Das Bild ist dazu geschaffen, dass im Betrachter dessen innere Welt geboren wird und entsteht, und damit sich diese innere Welt so weit wie möglich entwickelt. Dafür existiert die Kunst.“[49] Und an einer anderen Stelle heißt es: „Um diese Kunst in ihrer ganzen Tragweite zu verstehen, ist eine bestimmte innere Freiheit nötig, die aber auch äußerlich vorhanden sein muss.“[50]

Wenn der wichtige Unterschied zwischen wissenschaftlicher Wahrheit und künstlerischer Wahrheit nicht eingesehen wird, dann hat die Kunst entweder überhaupt keine Aufgabe, sie wird Freizeitbeschäftigung, oder sie wird Diener anderer Herren, womit wir in den Bereich aller möglichen Formalismusdebatten geraten, in denen untersucht wird, wie gut sie ihrem Herrn dient. „Reine Kunst“ ist nicht, wie Benjamin behauptet, Kunst ohne Gebrauchswert, sondern reine Kunst ist die, die zu sich selbst findet, ihre eigentliche Aufgabe findet. Die Kunst um der Kunst willen, „l’art pour l’art“, von Benjamin nicht ohne Intuition „Theologie der Kunst“ genannt[51], ist diejenige, mit der sich der Mensch am wirkungsvollsten emanzipiert.



11.
Kunst ohne Autonomie



Walter Benjamin zeigt sich befriedigt darüber, dass „die Kunst aus dem Reich des «schönen Scheins» entwichen ist“[52]. Doch welche emanzipatorische Funktion kann eine zukünftige Kunst haben, die sich nicht um Selbständigkeit bemüht, die auf Impulse verzichtet, welche aus Bereichen außerhalb der Produktionsbedingungen[53] kommen, also aus denjenigen, die für Benjamin „scheinbar autonom“ sind?[54] 

Im Grunde keine. Recht hat Walter Benjamin behalten mit seinen Voraussagen bezüglich der Möglichkeiten der neuen Techniken auf einem Gebiet, wo er sich vielleicht lieber geirrt hätte, dem „legitimen Anspruch, den der heutige Mensch auf sein Reproduziertwerden hat, die Berücksichtigung“[55]. Dieser legitime Anspruch ist der Haupttrieb, aus dem die Popkultur ihren immensen Erfolg schöpft. Andy Warhol war gewissermaßen der Vollender von Benjamin, indem er erfolgreich die Idee vermarktete, dass jeder das Recht habe, für 15 Minuten ein Star zu sein. Es ist genau der Starkult, den Benjamin als „künstlichen Aufbau der »personality«“[56] in Reaktion auf das „Einschrumpfen der Aura“[57] kritisiert: „Der vom Filmkapital geförderte Starkultus konserviert jenen Zauber der Persönlichkeit, der schon längst nur noch im fauligen Zauber ihres Warencharakters besteht.“[58]

Wenn sich in der Popkultur die Begriffe wiederfinden, die aus der ursprünglichen religiösen Funktion der Kunst übernommen wurden, wie „Ikone“, „Idol“, „Kultstatus“ oder „Starkult“, so bedeutet das, dass die aufklärerische Kunst ihren Anspruch nicht erfüllen konnte, den Menschen sich so seiner selbst bewusst zu machen, dass ihm seine eigene Originalität genügt. Die Popkultur als Massenphänomen gesehen ist die Hoffnung, den Erfolg ihrer Exponenten wiederholen zu können, indem man ihr Erfolgsrezept kopiert. Was die Stars tun und wer sie sind, ist im Grunde genommen egal, solange sie Erfolg haben, finanziellen Erfolg selbstverständlich. In der Popkultur definiert sich nicht der Erfolg über die Kunst, sondern die Kunst über den Erfolg. Diese Kultur der Nachahmung, die Tendenz einer Überwindung des Einmaligen[59], wie Benjamin sagt, hat den Unterhaltungswert des Karaoke: es ist die Kunst, sich unterhaltsam zu blamieren, und deshalb lässt sie sich in der Form von Castingshows ideal vermarkten. In den Castingshows singen die Bewerber Lieder, die bereits Hits sind, womit der Wiedererkennungswert gegeben ist. Was hier reproduziert wird oder reproduziert werden soll, ist der Erfolg, nicht der Star.

Selbst mit der „erfolgreichen“ Nachahmung des Erfolgs ist jedoch eines nicht gesichert: die Bedeutung der eigenen Handlung. Diese kann vom Individuum nur individuell ausgerichtet werden, weil die Bedeutung einer Handlung mit der Entscheidung verbunden ist, welchen Sinn man der eigenen Tätigkeit verleiht. Erfolg, der auf Nachahmung beruht, kann die Frage nach dem Sinn der individuellen Handlung nicht beantworten: was ein anderer mit Erfolg betrieben hat, muss für mein eigenes Handeln noch lange keinen Sinn ergeben. Man könnte es auch mit der christlichen Terminologie ausdrücken: Nachahmung ist keine Nachfolge. Nachahmung lässt die eigene Persönlichkeit außer Acht, Nachfolge rechnet mit der eigenen Persönlichkeit. Nachfolge kalkuliert den Erfolg auch nicht ein, weil sie den Erfolg nicht kennt, bevor sie ihn erlangt. Alles Reden von der „Strategie“ des Künstlers – zum Beispiel von Strategien der Provokation – ist nur ein Indiz dafür, dass gewisse technische Mittel bei der Verfolgung eines Ziels eingesetzt werden. Über die Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit des Ziels ist damit nichts gesagt.



12.
Der Begriff der Reproduktion



Im Zusammenhang mit Walter Benjamins „Tendenz einer Überwindung des Einmaligen“ ist es angebracht, den Begriff der Reproduktion genauer zu untersuchen.

Bestimmte technische Entwicklungen erlauben für bestimmte Kunstgattungen die Reproduktion, gleichzeitig begründen sie sie. „Das reproduzierte Kunstwerk wird in immer steigendem Maße die Reproduktion eines auf Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerks.“[60] Wenn man hier das Attribut „in immer steigendem Maße“ weglässt und durch „ist“ ersetzt, erhält man eine Definition des reproduzierten Kunstwerks. Diese Definition muss ergänzt werden: Reproduzierbarkeit bedeutet, dass die Reproduktion oder Kopie des Werkes alle stofflichen und begrifflichen Eigenschaften des Originals aufweisen muss. Hilfsweise können wir auch sagen: wir gehen davon aus, dass immer dann, wenn wir einen Gegenstand so kopieren, dass die Kopie alle stofflichen Eigenschaften des Originals aufweist, die begrifflichen Eigenschaften sich erhalten haben. Da aber vom Menschen geschaffene Gegenstände in ihren stofflichen Eigenschaften niemals vollkommen miteinander übereinstimmen, sondern nur annähernd, sozusagen mit einem zu vernachlässigenden Restunterschied, gibt es für die Feststellung, ob ein Kunstwerk reproduziert ist oder nicht, eine gewisse Unschärfe.

In der Regel wird man die Reproduzierbarkeit von Kunstwerken nur dann anerkennen, wenn sie im Abzugsverfahren hergestellt werden wie die Lithographie oder Fotografie. Theoretisch kann auch ein Gemälde durch ein Gemälde oder ein Gebäude oder durch ein Gebäude reproduziert werden, doch werden sich bereits größere Unterschiede in den stofflichen Eigenschaften ergeben. In dem Augenblick, wo die stofflichen Gemeinsamkeiten ganz in den Hintergrund treten und nur noch die begrifflichen erhalten bleiben, spricht man von einem Abbild. Treten im Abbild neue künstlerische Aspekte auf, erhalten wir, solange es begriffliche Übereinstimmungen mit dem Original gibt, ein Bild. Abbild und Bild geben nicht vor, die Sache selbst sein zu wollen. Eine Fotografie liefert uns somit keine Reproduktion einer Sache, sondern ein Abbild oder möglicherweise ein Bild. Mit anderen Worten: eine Fotografie eines Gemäldes ist keine Reproduktion des Gemäldes, auch wenn wir diesen Ausdruck immer dann verwenden, wenn wir betonen wollen, dass der Schöpfer des Abbildes sich als Handwerker in den Dienst des Originalwerks stellt und vergessen lassen will, dass wir es nur mit dem Abbild der Sache zu tun haben und nicht mit der Sache selbst.

Stoffliche Identität und begriffliche Identität werden im Deutschen auch verschieden benannt.

Die stoffliche Identität zweier Gegenstände gibt es in Wirklichkeit nicht, sondern nur ihre stofflichen Eigenschaften können identisch sein, dann bezeichnen wir die Gegenstände als „gleich“. Zwei Abzüge einer Fotografie oder zwei Kopien eines Filmes sind gleich, wenn sie gleichwertig sind, hier haben wir eine Reproduktion der einen Kopie in Bezug auf die andere. Es sind gleiche Kopien desselben Fotos oder desselben Films, das materielle Vielfache einer Einheit.

Die begriffliche Identität bezeichnen wir als „selbst“. Der Film „Metropolis“, den ich vor 10 Jahren gesehen habe, und seine restaurierte Fassung, die ich vor wenigen Monaten gesehen habe, ist für mich derselbe Film, trotz aller stofflichen Unterschiede, da er zu einem einzigen Begriff gehört. „Dasselbe“ ist das Einheitliche einer materiellen Vielfalt, dieses Einheitliche kann nur begrifflich gegeben sein. Selbstverständlich habe ich die Möglichkeit, die stofflichen Unterschiede zu betonen und davon zu sprechen, dass die beiden Fassungen von Metropolis ganz verschiedene Filme sind. Begrifflich gesehen sind die beiden Fassungen Varianten einer ideellen Einheit, während die Verschiedenheit ihrer stofflichen Eigenschaften Folgen hat für ihre wirtschaftliche Verwertbarkeit.



13.
Bild und Abbild



Benjamin benutzt die Begriffe Reproduktion, Abbild, Bild jedoch sinngleich. „Tagtäglich macht sich unabweisbarer das Bedürfnis geltend, des Gegenstands aus nächster Nähe im Bild, vielmehr im Abbild, in der Reproduktion, habhaft zu werden.“[61] Das führt dazu, dass er die besseren technischen Möglichkeiten für die Erstellung eines Abbildes als Angriff auf die Echtheit des Kunstwerks sieht, weil für ihn die Echtheit des Kunstwerks in seiner „geschichtlichen Zeugenschaft“[62] liegt, das Kunstwerk aber, wenn es zu einem späteren Zeitpunkt abgebildet wird (bei Benjamin: reproduziert), diese Zeugenschaft verliert: „was aber dergestalt ins Wanken gerät, das ist die Autorität der Sache“, sagt Benjamin[63].

Wir kommen hier zu einem Kernproblem des Bildbegriffs, wenn wir die „Echtheit des Kunstwerks“, gewissermaßen seine Daseinsberechtigung, auf den Begriff der „geschichtlichen Zeugenschaft“ einengen. Mit dem Begriff der „geschichtlichen Zeugenschaft“ wird für den Betrachter das Kunstwerk, und zwar unabhängig von jeglicher Intention des Künstlers, nicht zum Bild dessen, was es darstellt, sondern bereits zum Abbild einer Sache – nämlich dem Produkt eines historischen Geschehens: der Herstellung des Kunstwerks zu einem bestimmten Zweck. Unter dieser Voraussetzung werden aber alle weiteren Kopien zu Abbildern des Abbildes. Das Abbild des Abbildes gefährdet die Echtheit des Kunstwerks, weil es ihm seine Daseinsberechtigung nachträglich wieder entzieht.

Wie verhält sich aber nun das Bild zum Abbild?

In das Bild von einer Sache sind immer eigene Vorstellungen hineingemischt, egal, ob es sich um ein Bild von etwas sinnlich Wahrnehmbarem oder von einem seelischen Erlebnis handelt. Dadurch unterscheidet sich das Bild vom Abbild. Es ist das Wesentliche am Bild, dass in ihm die „Vorlage“ transformiert erscheint. Jedoch ist es sicherlich nicht falsch, wenn man feststellt, dass das Bild in sich eine Tendenz zum Abbild hat, wenn es nicht die Stufe des „schönen Scheins“ erreicht, um bei Schiller zu bleiben.

Ist das Bild dadurch „schlechter“ als das Abbild? Lügt es gar? Diesem Vorwurf tritt Goethe im oben erwähnten Aufsatz „Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke“ entgegen. In ihm unterstreicht er, dass es gerade nicht die Aufgabe des Kunstwerkes ist, die sinnlich erfassbare Wirklichkeit so abzubilden, dass es ein täuschend genaues Abbild dieser Wirklichkeit liefert.[64] Das Bild lügt nicht, weil es gar nicht vorgibt, Wirklichkeit zu sein. Die Theaterdekoration ist als solche erkennbar, sie liefert nur ein Bild der Situation. Insofern täuscht das Abbild viel mehr. Als Beispiel nennt er den Affen, der sich bemüht, aus einem naturgeschichtlichen Werk die Käfer herauszuspeisen. Der Affe ist eben einfach zu dumm, um im Bild oder Abbild einen eigenen Wert zu erkennen. Allerdings sitzt der Affe in der Falle. Dem Bild, das von der Vorlage entfernt ist, kann er gar keinen Wert zumessen, weil es noch nicht einmal Ähnlichkeit aufweist. Und dem Abbild muss er vorwerfen, dass es täuscht. 

Diese Debatte um Bild und Abbild ist am gründlichsten geführt worden für die Ikonenmalerei der Ostkirchen, die ja bereits im Begriff „Ikone“ das griechische εἰκών („eikon“) als „Bild, Gemälde, Abbild, Gleichnis, geistige Vorstellung“, aufnimmt (uns heute noch bekannt als „icon“ beim Versand von Kurznachrichten). Das „eikon“ gehört etymologisch zu den Verben ἔοικα („eoika“ gleichen, ähnlich sein), und εἰκάζω („eikazo“, abbilden; vergleichen) sowie dem Partizip ἐοικώς („eoikos“, wahrscheinlich, gebührend).

Uns interessieren in diesem Zusammenhang die konträren Auffassungen der Ikonoklasten (Ikonenzerstörer) und Ikonodulen (Ikonenverehrer), wie sie uns aus den Auseinandersetzungen im 8. Jahrhundert überliefert sind. Für die Ikonoklasten ist es nicht möglich, Christus darzustellen: entweder man begeht eine Gotteslästerung, wenn man den Erhöhten und Auferstandenen malt, weil man damit versucht, Gott in Farben zu malen. Oder man behauptet, man male nur den irdischen Jesus. Dann besteht die Gotteslästerung in der Behauptung, man könne Jesus in ein irdisches und einen göttliches Wesen teilen.[65] Dementgegen unterschieden die Ikonodulen, die sich auf dem 2. Konzil von Nikäa (787) durchgesetzt haben, streng zwischen der „wahre[n] Anbetung, die allein der göttlichen Natur zukommt[66] und der Verehrung des Bildes „unseres Herrn und Gottes und Erlösers Jesus Christus, unserer unbefleckten Herrin, der heiligen Gottesgebärerin, der ehrwürdigen Engel und aller heiligen und frommen Menschen[67]. Diese Verehrung geschieht auf dieselbe Weise, „wie man der Darstellung des kostbaren und lebendigmachenden Kreuzes, den heiligen Evangelien und den übrigen heiligen geweihten Gegenständen Weihrauch und Lichter zu ihrer Verehrung darbringt, wie es auch bei den Alten fromme Gewohnheit gewesen ist[68]. Ausschlaggebend ist die Schlussfolgerung „›Denn die Verehrung des Bildes geht über auf das Urbild‹, und wer das Bild verehrt, verehrt in ihm die Person des darin Abgebildeten[69]. „Person“ als Übersetzung von ὑπόστασις / hypóstasis ist hier gemeint im Sinne des wahren Wesens, der Substanz, von etwas, was als wirklich verbürgt ist.[70]

Pavel Florenskij, der bedeutende russische Priester, Kunstwissenschaftler und Mathematiker, hat in seiner grundlegenden Schrift über die Ikone „Die Ikonostase“ (1922 geschrieben und 1972 posthum veröffentlicht)[71] die Auffassung der Ikonodulen verteidigt und präzisiert. Er nennt die Ikonenmalerei „ein Festhalten himmlischer Bilder“ und die Ikonenmaler „Zeugen dieser Zeugen“, die uns „Bilder, είδη, ει̕κόνες ihrer Visionen” geben.[72]. Dabei ist unser Sehen ein zweistufiges: „In den Abbildungen der Ikonenmaler sehen wir selbst – sogar wir selbst – die gnadenvollen und durchlichteten Antlitze der Heiligen, in ihnen aber, in diesen Antlitzen, das zur Erscheinung gebrachte Bild Gottes und Gott Selbst.“[73] Auf diese Weise aber wird das Bild „untrennbar vom seinem Urbild“ und kann nicht mehr als „Darstellung”[74] bezeichnet werden, und das Aufsteigen vom Bild zum Urbild ist eine Berührung mit dem Urbild: „das sinnliche Zeichen [...] wird untrennbar vom seinem Urbild, mehr als eine »Darstellung«, es ist die erste Welle, oder eine der ersten Wellen, die von der Realität ausgehen. […] wir kommunizieren ja stets mit der Energie einer Wesenheit, und über die Energie mit der Wesenheit selbst, nicht aber unmittelbar mit letzterer .[75]

Daher ist für Pavel Florenskij die „Erinnerung“ an die Urbilder mit Hilfe der Ikone, wie sie im Text des 2. Konzil von Nikäa formuliert wurde[76], das Erwecken einer geistigen Vision im Bewusstsein. Er schreibt weiter: „Bei einem, der diese Vision klar und bewusst geschaut hat, ist diese neue, sekundäre Vision durch die Ikone selbst klar und bewusst. Bei anderen dagegen weckt die Ikone eine tief unter dem Bewusstsein schlummernde Wahrnehmung des Geistigen, Übersinnlichen, bestätigt aber nicht einfach, dass es diese Wahrnehmung gibt, sondern veranlasst eine eigene Erfahrung dieser Art oder bringt sie dem Bewusstsein nahe. In der Blütezeit der Gebete der großen Asketen waren Ikonen oftmals nicht nur Fenster, durch die die auf ihnen abgebildeten Personen zu sehen waren, sondern eine Tür, durch die diese Personen in die sinnliche Welt eintraten. Gerade aus Ikonen stiegen die Heiligen am häufigsten herab, wenn sie den Betenden und Gläubigen erschienen.

In geringeren, doch im Wesen diesen Fällen verwandtem Maß haben aber viele Menschen, die durchaus keine Asketen waren, ähnliche Erscheinungen erlebt. Ich meine das heftige, die Seele durchdringende Gefühl der Realität der geistigen Welt, das wie ein Schlag, wie eine brennende Wunde wohl jeden trifft, der eines der heiligsten Werke der Ikonenkunst erblickt.[77]

In scharfer Abgrenzung davon sieht er das Erinnern im subjektiv-psychologischem Sinn oder die subjektiv-assoziative Bedeutung der Ikonen, die die ontologische Verbindung mit den Urbildern negiere, wodurch man „unter dem Anschein, die Ikonen zu verteidigen, den Ikonoklasmus eigenhändig wiederherstellt, und das auch noch grob und uneingeschränkt“.[78]Wenn die Ikonen tatsächlich ,Darstellungen’ sind, so ist es absurd und sündhaft, diesen pädagogischen Hilfsmitteln eine ,Ehre’ zu erweisen, die einzig und allein Gott gebührt, und es ist ganz unverständlich, was der uralte Glaube der Kirche an ein Aufsteigen zu den Urbildern, an die Ehre, die dem Bild zu erweisen ist, eigentlich bedeutet.[79]

Diese Ansicht macht verständlich, worin für Pavel Florenskij die Aufgabe der Ikonenmaler liegt: nicht im Erdenken eines Motives, sondern im Wegschaffen der Hindernisse, die die objektive Realität verhüllen[80]. Sie öffnen den Vorhang zur objektiven – das ist die geistig wirkende – Realität[81] und markieren diese übersinnlichen Ideen stofflich.[82] Sie bezeugen aber nicht mit der Ikone die Heiligkeit der Heiligen, sondern „wir selbst vernehmen das von ihnen durch das Werk eures Pinsels ausgehende Eigenzeugnis der Heiligen – nicht durch Worte, sondern durch ihre Antlitze[83].

Bei der Ikone kommt somit alles darauf an, dass der Ikonenmaler eine echte geistige Erfahrung, eine Offenbarung des Urbildes hat. Wir kehren nun zur Terminologie von „Bild“ und Abbild“ zurück, wie sie in diesem Aufsatz bisher verwendet wurde. Ich habe oben geschrieben „In das Bild von einer Sache sind immer eigene Vorstellungen hineingemischt, egal, ob es sich um ein Bild von etwas sinnlich Wahrnehmbarem oder von einem seelischen Erlebnis handelt. Dadurch unterscheidet sich das Bild vom Abbild. Es ist das Wesentliche am Bild, dass in ihm die ,Vorlage’ transformiert erscheint“. Das scheint nun gerade der Auffassung Florenskijs zu widersprechen, jedenfalls, wenn man „Vorlage“ mit „Urbild“ gleichsetzt. Allerdings wäre in unserer Terminologie der Begriff „Abbild“ für die Ikone aufgrund ihrer Wesenseinheit mit dem Urbild passender. Gerade diesen Begriff „Abbild“ lehnt Florenskij aber als „Darstellung“ ab. Man sieht, dass Pavel Florenskij die Begriffe „Bild“ und „Abbild“ genau umgekehrt benutzt. Das Bild ist wesensgleich, das Abbild ist Darstellung: subjektive, willkürliche, zufällige Malerei; das Bild ist für Florenskij „dasselbe“ im Unterschied zu „einem solchen“ beim Abbild.[84]

Um diese Wesenseinheit zu garantieren, bedarf es einer Primärquelle. Sie beruht auf der Echtheit der Offenbarung: „Eine solche ersterschienene oder urbildliche Ikone – so nennt man sie – wird als Primärquelle betrachtet, sie entspricht dem echten Manuskript dessen, der von einer faktisch geschehenen Offenbarung berichtet“, sagt Florenskij.[85] Eine solche Primärquelle wird aufgrund ihrer Authentizität „Vorlage“ – Original – für Kopien, deren geistiger Inhalt dann ebenfalls identisch ist mit der „Vorlage“. Auf diese Weise sorgt die Kirche für den Erhalt der geistigen Einheit. Pavel Florenskij spricht vom „Faden der Zeugenaussagen [...], der sich ununterbrochen von Christus, dem Erstzeugen selbst, bis in den innersten Kern der kirchlichen Verkörperungen spannt[86]. Nur die Kirche, nicht der Ikonenmaler selbst ist berechtigt, diese Identität zu bestätigen; sie tut es durch die Beschriftung der Ikonen mit dem Namen der Heiligen.[87]

Vergleichen wir, wie radikal sich die Positionen Pavel Florenskijs und Walter Benjamins unterscheiden. Für Pavel Florenskij ist die Ikone Selbstzeuge eines heiligen geistigen Urbildes, das durch den „Faden der Zeugenaussagen“ – autorisierte Kopien – durch die Zeit erlebbar bleibt. Walter Benjamin verbindet mit dem Betrachten eines Tafelbildes keine lebendige Erfahrung. Es besitzt nur geschichtliche Zeugenschaft und hat zu seiner Zeit einen jeweiligen Gebrauchswert; dies gilt auch für religiöse Kunst als Gegenstand des Kultes. Der Wert der geschichtlichen Zeugenschaft wird aber durch Kopien geschmälert.[88]

Sobald dieser geistige Faden abgerissen ist (wie für Benjamin), ist auch die Aufschrift auf den Ikonen nicht mehr eine Beglaubigung der Wesenseinheit von Urbild und Abbild (Bild im Sprachgebrauch Florenskijs). Die Aufschrift ist dann nur noch ein Zeichen für das konkret Dargestellte, also für Florenskijs Abbild; Florenskij würde vermutlich von einer subjektiven Erinnerung sprechen. Damit ist die Sache aber nicht aus der Welt, denn wo es ein Abbild gibt, muss es auch ein Urbild geben, und dieses Verhältnis ist nicht geklärt.

Ein Beispiel dafür ist Margrittes Aufschrift zum Bild von 1929 „La trahison des images“ (Der Verrat der Bilder): „Ceci n’est pas une pipe“. Auf dem Bild ist bekanntlich eine Pfeife zu sehen, und während über das Abbild selbst die Verbindung zum Urbild hergestellt wird, wird mit der Aufschrift „Ceci n’est pas une pipe“ („Dies ist keine Pfeife“) diese Verbindung wieder unterbrochen.

Grund für diese Paradoxie ist die Ambivalenz des Verweises auf Urbild bzw. Original. Man steigt nicht mehr vom Abbild zum Urbild auf, wenn das Urbild nicht eine geistige Realität ist, sondern bloß noch eine stoffliche Realität, ein Original: stoffliche Realitäten sind stets stofflich getrennt, das ist ihre Grundeigenschaft. Das verhindert das gedankliche Aufsteigen von der gemalten Pfeife zur „echten“ Pfeife, zum Original. Andererseits können und müssen wir stoffliche Realitäten aber, wie im Kapitel „Der Begriff der Reproduktion“ gezeigt, begrifflich verbinden, sonst bleibt die Welt zusammenhangslos. Mithilfe des Begriffs kommen wir von der gemalten Pfeife doch wieder zum Urbild, zur Idee der Pfeife, zur Pfeife „an sich“. Ob wir die stofflichen Realitäten auch mit dem richtigen Begriff verbinden, ist damit noch nicht gesagt, aber es ist eben eine Tatsache: sobald wir anfangen zu verbinden (zu denken), schlüpfen wir aus der stofflichen Realität in den Begriff hinein und kommen aus dem Begriff nicht mehr heraus. Wir haben einen Begriff „Pfeife“, der sowohl auf Urbild (geistige Entität) als auch auf den Gegenstand (stoffliches Original) und alle seine Abbilder verweist, und so lässt sich von der gemalten Pfeife eine Sache und ihr Gegenteil behaupten. In diesem notwendigen Paradox liegt der Witz von „La trahison des images“.

Vollständig wäre die Aufschrift mit dem Zusatz „Dies ist vielmehr das Abbild einer Pfeife“. Damit wäre dann auch Goethes Affe zufriedengestellt.

Wir sehen nun auch, worin die unterschiedlichen Auffassungen Walter Benjamins und Pavel Florenskijs über Sinn und Nutzen von Kopien ihren Ursprung haben. Für Walter Benjamin entwertet die Kopie die geschichtliche Zeugenschaft des stofflichen Originals, während für Pavel Florenskij die autorisierte Kopie geradezu notwendig ist, um den „Faden der Zeugenaussagen“ in Bezug auf das geistige Urbild zu erhalten.

Dennoch gibt es zwischen den beiden eine wesentliche Gemeinsamkeit: es bleibt kein Platz für die Schöpferkraft des Individuums im Sinne Schillers, wenn es den „schönen Schein“ erzeugt. Beide suchen mit der Kunst die objektive Wahrheit: Walter Benjamin die wissenschaftliche Wahrheit, Pavel Florenskij, ganz Platoniker, die objektive Idee, das Urbild, welches innerhalb des Kanons zwar durchaus verschiedene Darstellungen finden kann, aber eben innerhalb des Kanons, der durch Erstoffenbarung festgelegt ist; weitere Offenbarungen müssen sich im Rahmen dieser kanonischen Formen bewegen, um als solche anerkannt zu werden. „Und diese Differenz mehrerer Wiederholungen ein und derselben ersterschienenen Ikone verweist keineswegs auf die Subjektivität des Dargestellten, auf die Willkür des Ikonenmalers, sondern im Gegenteil gerade auf die lebendige Realität, die, auch wenn sie sie selbst bleibt, unterschiedlich in Erscheinung treten kann, je nach den Umständen des geistigen Lebens, das auch der Ikonenmaler wahrnimmt.“[89]

Dem Künstler, der auf die kanonische Form verzichtet, wirft Florenskij Ignoranz und Egoismus vor:

Indem die kanonische Form den Künstler auf die von der Menschheit erreichte Höhe erhebt, setzt sie seine schöpferische Energie zu neuen Errungenschaften frei, zu schöpferischen Höhenflügen, und befreit von der Notwendigkeit, Gemeinplätze eigenschöpferisch zu wiederholen: Die Anforderungen der kanonischen Form oder genauer das Geschenk der kanonischen Form, das die Menschheit dem Künstler macht, sind Befreiung, nicht Einengung. Der Künstler, der sich aus Ignoranz vorstellt, er werde ohne kanonische Form etwas Großes schaffen, gleicht einem Fußgänger, der meint, der feste Boden störe ihn und er komme in der Luft schwebend weiter als auf der Erde. Tatsächlich greift der Künstler, der die vollkommene Form über Bord geworfen hat, unbewußt nach Resten und Bruchstücken von Formen, sie sind jedoch zufällig und unvollkommen, und für diese unbewußten Reminiszensen bemüht er dann das Epitheton des «Schöpfertums». Umgekehrt will der wahre Künstler nicht sein Eigenes, koste es, was es wolle, sondern das Schöne, das Objektiv-Schöne, d. h. die künstlerisch verkörperte Wahrheit der Dinge, und die nebensächliche egoistische Frage, ob er als erster oder als hundertster von der Wahrheit spricht, beschäftigt ihn überhaupt nicht.[90]

Während Pavel Florenskij dem Künstler doch schöpferische Energie zuspricht und den schöpferischen Höhenflug gestattet, hält Walter Benjamin „Schöpfertum“ wie auch Genialität, Ewigkeitswert und Geheimnis für überkommene Begriffe, die es abzuschaffen gilt. Dieses „Schöpfertum“ zu bestimmen hat ja nur dann einen Sinn, wenn man sich die Frage stellt, inwiefern der Mensch die Schöpfung als Schöpfer weiterführen kann, und zwar im Sinne einer goetheschen „Steigerung“ der Natur[91], die dem Menschen selbstverantwortlich, das heißt frei überlassen ist. Denn das, was aus Notwendigkeit geschieht, besitzt nur den „Schein der Autonomie“, hier kann der Mensch nicht eingreifen. „Schöpfertum“ und „Freiheit“ sind somit untrennbar miteinander verbunden; sie sind die Grundprobleme des selbstbewussten Individuums, die sich im Laufe der letzten Jahrhunderte immer drängender in den Vordergrund schieben.

Worin liegt aber die Schöpferkraft des Künstlers? Was hat er vollbracht, wenn er ein Bild gestaltet hat? Eine radikale Antwort gibt Evgenij Kozlov in seiner in seiner Kunsttheorie „CHAOSE ART“ von 2009[92]: dem Künstler geht es in letzter Konsequenz gar nicht darum, welche materielle Gestaltung das Werk erreicht. Die materielle Gestaltung ist vielmehr die Voraussetzung und gleichzeitig ein notwendiger Durchgangsprozess, um das zu erreichen, was dem Werk seine Ausstrahlung verleiht: die „geistige Schicht“. Diese geistige Schicht befindet sich gewissermaßen zwischen Farbe und Farbträger. Sie ist das, was übrig bleibt, wenn das materielle Medium vernichtet ist. Und man kann sagen: wenn das Werk eine solche geistige Schicht „besitzt“, dann schiebt sich zwischen Urbild und Abbild das Bild.

Mit der Vorstellung von einer „geistigen Schicht“ steht Evgenij Kozlov Pavel Florenskij nahe, allerdings mit dem gravierenden Unterschied, dass er sich in seinen Bildern gerade nicht an kanonischen Vorbildern orientiert, sondern diese geistige Schicht durch jeweils neue Formen neu erzeugt. Hier finden wir den Anschluss an Schillers „schönen Schein“: der Künstler erzeugt das Bild zunächst nur als Schein, der aber letztendlich die Transformation oder Metamorphose der vorgefundenen Welt durch die moralische Fantasie des Künstlers einleitet. Der „Schein“, diese „geistige Schicht“, wird dadurch zum Keim von etwas Neuem, und das Bild wird selbst zum Urbild. Evgenij Kozlov bezeichnet die „geistige Schicht“ auch als „Sinn“ des Bildes, und in seiner Theorie zur „CHAOSE ART“ führt er aus, dass die Künstler des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts gerade mit Resten und Bruchstücken von Formen (um bei Florenskijs Terminologie zu bleiben) operieren, um einen neuen Sinn zu schaffen, der sich zunächst chaotisch zeigt. Das, was für Florenskij reine Willkür ist, ist für den modernen Künstler vielleicht die einzige Möglichkeit, den geistigen Faden wieder aufzunehmen. Zu welchen Ergebnissen die Künstler gelangen, in welchem Maße diese befriedigend sind oder nicht, wäre Gegenstand einer weiteren Untersuchung. Interessant ist jedenfalls eine weitere Übereinstimmung Kozlovs mit Florenskij: die Auffassung, dass das Gesicht die höchste Form des geistigen Menschen zum Ausdruck bringt; für Kozlov ist es insbesondere der Blick. Die Darstellung des Gesichts und dessen Ausdruck nimmt daher in seiner Kunst einen zentralen Platz ein.[93]



14.
Der Begriff der Schöpfungshöhe



Kehren wir zurück zum Bild im herkömmlichen Sinn: zum Produkt.

Das Bewusstsein davon, dass das Bild einen eigenständigen Wert verkörpert, ein Original konstituiert, führt dazu, dass die Originalität seines Schöpfers in den Vordergrund rückt. Wo am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit allmählich der sinnlich wahrnehmbare Gegenstand Ausgangspunkt der Darstellung wird, beispielsweise mit der Portraitmalerei, kommt es auf eine originelle Interpretation durch das Bild an. Originell heißt gleichwohl, dass das geistige Element am Gegenstand – an der Person, an der Landschaft – in der Betrachtung erlebbar ist.

Parallel entsteht das Abbild als Kopie zu diesem Original, das eine willkürliche Zurücknahme der Interpretation sein will. Jetzt erfolgt erst die begriffliche Trennung von Bild und Abbild, die das griechische „eikon“ noch nicht kennt. Das Bild nimmt gegenüber dem Abbild den Vorrang ein. Die Art und Weise der Bildgestaltung, das heißt der Interpretation, rückt in den Blickpunkt. Daher werden Fragen des Stils von eminenter Bedeutung, die Frage nach dem Sujet bleibt zweitrangig.[94]

Damit geht einher, dass wir dem „Hersteller“ des Bildes eine immer größere Bedeutung zuweisen, und zwar unabhängig vom Umfang seiner schöpferischen Leistung, unabhängig davon, ob er ein Bild oder ein Abbild herstellt. Der Hersteller stellt per Definition ein Original her, auch wenn er kopiert. Es ist dann das Original des Kopisten. Mit anderen Worten, mit einer größeren Anzahl von Produkten entstehen immer mehr Originale. Das bereits zitierte Gemälde von Magritte kann dies veranschaulichen.

Wenn wir Magrittes Gemälde fotografisch abbilden, so haben wir es zu tun mit dem ersten Original, einer „realen“ Pfeife (genauer: dem ersten stofflichen Original). Es folgt das zweite Original, nämlich Magrittes Gemälde („Bild“) mit dem Bild bzw. Abbild einer Pfeife, und drittens die Fotografie von Magrittes Gemälde, die wir im Katalog sehen, und die wieder ein Original konstituiert. Ich kann nun diese Katalogseite in einem anderen Bildband zeigen. Dann komme ich zum nächsten Original. Die Kette lässt sich beliebig fortsetzen.

Jedes Bild ist wieder ein Original, und jedes Original ist ein Echtes. Wir sprechen also von der Echtheit des ersten Bildes und von der Echtheit des zweiten und aller weiteren Bilder oder auch Abbilder, und wir stellen uns gar nicht die Frage, welches der Bilder „echter“ ist. Wir können uns allenfalls fragen, wie im jeweiligen Fall die Korrespondenz zum Original beschaffen ist, dessen Bild es ist. Die Frage ist somit, wie selbständig das jeweilige Original gegenüber seinem Vorgängeroriginal ist.

Das Urheberrecht geht auf diese Korrespondenz mit dem Begriff der Schöpfungshöhe ein. Einerseits schützt es (innerhalb zeitlich festgelegter Grenzen) jedes Original für sich selbst. Der Schutz ist ein Schutz gegen Kopien ohne Erlaubnis des Urhebers. Eine Kopie ist eine Abbildung mit geringer Eigenständigkeit – Schöpfungshöhe – gegenüber dem Original, beispielsweise eine fotografische Reproduktion eines Gemäldes. Eine solche darf nur mit Erlaubnis dessen hergestellt werden, der die Bildrechte am Gemälde besitzt. In Deutschland ist das der Künstler oder derjenige, an den der Künstler die Rechte überträgt.

Andererseits ist auch die fotografische Reproduktion gegen Kopien geschützt, und das ganz unabhängig davon, ob sie mit oder ohne Erlaubnis angefertigt wurde: sie konstituiert für sich gesehen ein Original. Eine Nutzung der Fotografie ohne Erlaubnis des Fotografen ist daher nicht vorgesehen, es sei denn, die Nutzung weist „Schöpfungshöhe“ auf. Wenn ein Fotograf einen Künstler fotografiert, der sein Gemälde vor sich hält, so darf ich diese Fotografie nur verwenden, wenn ich sie künstlerisch transformiere, beispielsweise, indem ich sie teilweise übermale. Am besten, ich verändere auch das abgebildete Gemälde, denn das ist ja für sich geschützt. Sonst habe ich eventuell zu siebzig Prozent etwas Erlaubtes und zu dreißig Prozent etwas Verbotenes getan.

Dass die Schöpfungshöhe für den Einzelfall zu klären ist – oder auch nicht zu klären ist – versteht sich von selbst. Man sieht jedoch, wie differenziert die Betrachtung von Original und Kopie – Bild und Abbild – in der Rechtsprechung ist.



15.
Aura und Echtheit des Kunstwerks



Benjamins Sorge, dass das Original durch die massenhafte Verbreitung von Abbildern seine Aura verlieren könnte, ist nur dann berechtigt, wenn wir das Abbild eines Gegenstands mit dem Gegenstand selbst verwechseln, denn wenn das Abbild tatsächlich eine Reproduktion des Originals wäre, würde es das Original überflüssig machen. Dass aber das Abbild erst das Interesse am Original weckt, zeigen die langen Besucherschlangen, die sich vor Leonardo da Vincis „Mona Lisa“ bilden. Sie sind nicht ohne die massenhafte Verbreitung ihrer Abbilder zu erklären.

Es bleibt noch die Frage zu beantworten, ob ein originales Kunstwerk seine Aura verliert, wenn es tatsächlich reproduziert werden kann, wenn seine technische Form die Herstellung identischer (besser: gleicher) Kopien erlaubt, wie es etwa beim Film der Fall ist. Um hier noch einmal das Beispiel des Filmes „Metropolis“ zu benutzen: alle Kopien zusammen bilden für mich den Begriff dieses konkreten Films. Daher sind gerade Kunstwerke, die reproduziert und nicht nur abgebildet werden, für mich mit all ihren geschichtlichen Fassungen begrifflich ein jeweils einziges. Die geschichtliche Einbettung, mit der Walter Benjamin das Kunstwerk identifiziert, bleibt vom Zeitpunkt der Erstellung einer Kopie unberührt. Wie bei der Abschrift eines kanonischen Textes bleibt die Autorität der Sache erhalten.

Nun ist aber überraschend, dass Walter Benjamin diese geschichtliche Einbettung gar nicht zur Grundlage nimmt, wo er den Versuch unternimmt, die Echtheit des Kunstwerks mit dem Begriff der Aura zu erläutern. Diese definiert er mithilfe einer Empfindung, die sich beim Betrachten der Natur einstellt, als „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieses Berges, dieses Zweiges atmen“[95].

Was ist an diesem Beispiel geschichtlich? Mehr noch: wo finden wir hier Zeugnisse gegenwärtiger oder vergangener Produktionsbedingungen? Benjamin hat ein Beispiel gewählt, in welchem er für die Beschreibung der Aura alle Zeugnisse menschlicher Tätigkeit ausschließt, keine Straße ist zu sehen, kein Haus, noch nicht einmal weidende Tiere. Es ist ein Beispiel, das außerhalb der menschlichen Zeit liegt. Das bedeutet aber analog, dass ich auch ein Kunstwerk, sofern die Aura seine Bedingung ist, wie ein Werk außerhalb der Zeit betrachten muss. Geschichtlich eingebettet sind ohne Zweifel die Umstände seiner Produktion und anschließenden Reproduktion beziehungsweise Abbildung – alles, was mit seinem Gebrauchswert, seiner Vermarktung zu tun hat. Es ist also genau umgekehrt wie Benjamin sagt. Die Aufhebung der Geschichtlichkeit zerstört nicht die Aura des Kunstwerks, sondern sie lässt sie erst entstehen. Die Aura entsteht, wenn die Produktionsbedingungen das Werk nicht mehr definieren, sondern in ihm aufgehoben sind. Erst dann kann man vom Kunstwerk sprechen. Der Künstler soll mir nicht zeigen, wie großartig er mit der Technik umgehen kann, sondern er hat die Technik zur Verfügung, um ein großartiges Werk zu schaffen. Zugespitzt gesagt: der Künstler soll ein Werk nicht wegen der technischen Mittel, sondern trotz der Beschränktheit seiner technischen Mittel herstellen. Denn die technischen Mittel werden (wie auch die gegebenen Lebensumstände) immer eine Einschränkung darstellen, egal wie hoch entwickelt sie sind. Der Künstler kann die Beschränktheit der technischen Mittel überwinden, nicht, indem er die technischen Mittel unkenntlich macht, sondern indem er ihre Beschränktheit unkenntlich macht. Dadurch erreicht das Kunstwerk eine höhere Stufe der Natürlichkeit – einen Schein der Natürlichkeit, den die Natur selbst nicht erreicht.

Für die Echtheit des Werkes spielt es gar keine Rolle, ob von ihm Abbilder existieren oder nicht. Es kann auch gar nicht das Anliegen des Künstlers sein, Abbilder oder gar Kopien des Originals herzustellen. Für wissenschaftliche oder wirtschaftliche Zwecke  ist dies legitim, für künstlerische Zwecke ein Irrtum. „Denn jeder Mensch unterscheidet sich doch in seiner Persönlichkeit so ungeheuer von dem anderen, dass es für ihn gar keinen Sinn hat, das zu verdoppeln, was ein anderer Mensch schon vor ihm gedacht hat“, sagt Evgenij Kozlov.[96] Für ihn stellt sich nicht das Problem der Echtheit eines Kunstwerks, sondern die Frage nach dem Schaffen eines echten Kunstwerks. „Bisher weiß ich nur eins, dass die Schaffung eines echten Kunstwerks – so, dass es dem Zuschauer sichtbar und verständlich wird, – nur dann möglich ist, wenn man zuerst den Zustand erreicht, der sich „die Kunst der Zukunft“ nennt. Eben dieser innere Reichtum des Verlangens und dieses innere Verlangen wiederum nach Reichtum. Allgemein gesagt, ist das so.“[97]

Mit einem solchen Verständnis des Kunstwerks erübrigt sich aber auch zunächst einmal die Frage nach dem Verlust seiner Aura durch Kopien. Wir legen hier das Augenmerk erneut auf den doppelten Charakter des Begriffs des Bildes, nämlich einerseits als Endprodukt eines Vorgangs („Gemälde“), andererseits als Vorgang selbst, wie er sich im Verb „bilden“ und bis zu einem gewissen Grad in dessen substantivierter Form „Bildung“ erhalten hat. Von diesem Vorgang ist hier die Rede. Das, was im Inneren des Menschen vorgeht, ist die Herausbildung oder Heranbildung eines Zustands. Diese Herausbildung ist Grundlage für die Entstehung des „Bildes“ als Kunstwerk. Sie steht einem anderen Menschen nicht zur Verfügung. Sie zu kopieren ist unmöglich.



16.
Das Schaffen eines echten Kunstwerks



Ich kann die Echtheit eines Kunstwerks geschichtlich bestimmen, aber ich kann nicht geschichtlich bestimmen, ob es sich um ein echtes Kunstwerk handelt. Bei dem Versuch, dies zu tun, gerät Walter Benjamin in Widersprüche. Evgenij Kozlov hat es einfacher, indem er auf seine eigene Erfahrung Bezug nimmt. Er hat es allerdings insofern schwerer, als diese Erfahrung nicht aus Wortgedanken besteht, so dass er, um sie mitteilbar zu machen, die Worte erst bilden muss. Dies geschieht im Dialog. Der Gedanke wird in dieser Wortform zum ersten Mal im Dialog ausgesprochen oder geschaffen. Dies entspricht ganz und gar der „sonstigen“ schöpferischen Tätigkeit Evgenij Kozlovs, die aus einem Zustand heraus erfolgt, über den er nicht einfach verfügt, sondern den er sich jedes Mal neu schafft. Er beschreibt diesen Zustand zu Beginn des Gesprächs, wo er sagt, dass er ihn sich mithilfe eines Gefühls schafft, das er erst empfangen muss. Dieser passiv / aktive Prozess, den ich anfangs kurz erwähnt habe, setzt ihn heraus aus seinem Alltagsbewusstsein, er lässt eine innere Welt entstehen, die er andererseits in sich heranbildet, und in die hinein erst die Informationen fließen können, mit deren Hilfe er seine Kunstwerke gestaltet, ihnen Sinn und Harmonie verleiht.

Es ist dieser vage beschriebene Zustand, der am meisten Rätsel aufgibt, die Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit des Empfangens und des Schaffens. Man muss etwas dafür tun, es bedarf großer Achtsamkeit, um den Zustand „dieses inneren Reichtums des Verlangens und dieses inneren Verlangens wiederum nach Reichtum“ in sich heranzumodellieren. Aber es ist nicht so, dass man erst passiv empfängt und dann aktiv umsetzt. Vielmehr sind diese beiden Zustände ineinander verwoben, im Grunde ist er ein einziger, ein dritter Zustand, der nur begrifflich zerlegt wird. „Der wirklich neue Schritt, den die Kunst geht, wo sie über den klassischen Ansatz hinausgeht, das ist die Kunst, die im Innern des Menschen entsteht, der sie gleichzeitig schafft.“[98]

Im Gegensatz dazu sind wir es gewohnt, diese beiden Seinsweisen nicht nur begrifflich, sondern auch zeitlich zu trennen. Entweder sind wir passiv im Empfangen oder aktiv im Schaffen. Den schöpferischen Prozess, sofern wir in ihm mehr als eine konventionelle Redeweise sehen, betrachten wir als aktiven. Das, was im Betrachter eines Kunstwerks vorgeht, sehen wir als passiven Prozess. Das Problem, vor das wir uns gestellt sehen, ist die Frage, wie der passive Betrachter in der Zukunft zum aktiven Künstler wird, das heißt, um ein Zitat von oben wieder aufzugreifen, wie „der Mensch die Kräfte, die ihm dabei helfen, in seiner inneren Welt die neue Kunst zu schaffen, fühlen und sehen“[99] kann.

Nun stellt Benjamin beim Betrachter zwei unterschiedliche Wirkungen des Kunstwerks fest: „Der vor dem Kunstwerk sich Sammelnde versenkt sich darein [...]. Dagegen versenkt die zerstreute Masse ihrerseits das Kunstwerk in sich.[100] Anders formuliert: wenn ich mich in etwas versenke, nehme ich mein Ich mit, bin mir meiner Eindrücke bewusst, fühle und sehe ich die Kräfte, die die innere Welt schaffen. Wenn ich hingegen etwas in mich versenke, lösche ich mein Ich aus und lasse mich von etwas anderem ausfüllen, ich werde unbewusst. Dies ist gewissermaßen die Steigerung der Passivität und Charakteristik der Massenkultur, der Popkultur.



17.
Das selbstbewusste Schöpfertum



Benjamins interessante und meiner Meinung nach richtige Beobachtung bringt ihn zu einer unerwarteten Schlussfolgerung. Man müsste annehmen, dass er sich wünscht, dass das Kunstwerk das Individuum in Zukunft zu einen höheren Grad an Sammlung führen soll, damit jeder einzelne einen höheren Grad des Bewusstseins seiner selbst erreicht.

Das Gegenteil ist der Fall. Benjamin setzt für die Zukunft auf die Macht der Zerstreuung durch die Massenkultur. Wieso? Weil er die Kontemplation vor dem Bild plötzlich und ohne weitere Begründung als „bloße Optik“ bezeichnet, für die Bewältigung der neuen geschichtlichen Aufgaben benötige man aber die taktile Rezeption, wie sie bereits bei der Wahrnehmung der Architektur bestehe. Die taktile Rezeption einschließlich der Fähigkeit zur Beurteilung könne auch in der Zerstreuung eingeübt werden, nach Anleitung durch Gewöhnung: „Gewöhnen kann sich auch der Zerstreute.“[101]

Ganz abgesehen davon, ob Walter Benjamin mit seiner Auffassung von optischer und taktiler Wahrnehmung richtig liegt: was er hier „Gewöhnung durch Zerstreuung“ nennt, ist nichts anderes als die Psychologie des Totalitarismus’, die sich der Massenmedien als Propagandamittel bedient. Von der Fähigkeit zur Beurteilung kann hier gar keine Rede sein. Wie sollen wir uns denn ein zerstreutes Einüben der Urteilsfähigkeit vorstellen, wo doch die Beherrschung einer bewussten Tätigkeit konzentriertes Üben erfordert? Doch allenfalls als reflexartige Übernahme fremder Meinungen. Er geht aber auch gar nicht um die Urteilsfähigkeit, sondern um die Konditionierung des Individuums, um seine Kontrolle. Mit verblüffender Offenheit fügt Benjamin hinzu: „Durch die Zerstreuung, wie die Kunst sie zu bieten hat, wird unter der Hand kontrolliert, wie weit neue Aufgaben der Apperzeption lösbar geworden sind. Da im übrigen für den Einzelnen die Versuchung besteht, sich solchen Aufgaben zu entziehen, so wird die Kunst deren schwerste und wichtigste da angreifen, wo sie die Massen mobilisieren kann. Sie tut es gegenwärtig im Film.“[102]

Dies ist eine schwerwiegende Aussage. Es bleibt festzustellen, dass Benjamin eine Anleitung zur Manipulation der Massen gibt und nicht zum Erlangen eines selbstbewussten, individuellen Schöpfertums, das er doch verteidigen wollte.

Letzteres betont Evgenij Kozlov: „Vielleicht ist die Kunst der Zukunft genau dazu da, damit die individuellen Eigenschaften eines jeden Menschen so weit wie möglich entwickelt werden.“[103]

Und an anderer Stelle beschreibt er den Weg dieser Entwicklung folgendermaßen:

„In der Regel fühlt ein Betrachter, wenn er ein Meisterwerk der Kunst aus der Vergangenheit oder Gegenwart anschaut, eine konkrete Trennlinie zwischen sich und dem Künstler: dort ist der Künstler, und hier bin ich, der Betrachter. In der Zukunft wird das nicht so sein, dann wird jeder ein Künstler sein. Es wird der Augenblick kommen, wo die Kräfte, die in das Innere des Menschen die dafür bestimmten Informationen eingeben, die Fähigkeit des Menschen, darunter auch das Bewusstsein, derart mächtig entwickeln, dass dann jeder Mensch die Kunst der Zukunft schafft, was bedeutet, dass jeder Künstler sein wird. Dies wird sich in jedem Menschen ereignen. Es wird sich immer mehr und mehr entwickeln. Die Kunst der Zukunft aus sich zu schaffen, wird dann für alle genauso natürlich sein wie heute für jeden das Schreiben und für einige bereits das Zeichnen.“[104]

Walter Benjamin schreibt seine Untersuchung als Kampfschrift, mit der er revolutionäre Forderungen in der Kunstpolitik formuliert, die für den Faschismus ungeeignet sein sollen. Auf Umwegen und gegen seine Absicht gelangt er dazu, dem Faschismus eine Gebrauchsanleitung für die Manipulation der Massen mit Hilfe neuer Technologien zu liefern. Selbstverständlich waren die totalitären Regime seiner Zeit auf ihn nicht angewiesen, sie gewannen ihre Kenntnisse unabhängig von ihm. Doch scheint mir Walter Benjamins Argumentation in vieler Hinsicht symptomatisch zu sein für die Standpunkte, die sich in all ihrer Widersprüchlichkeit ergeben, wenn es kein Verständnis dafür gibt, welche Aufgabe die Kunst in ihrer selbständigen Funktion haben kann und für die Zukunft haben soll. Wenn ich den geistigen Menschen als Produkt seiner materiellen Bedingungen definiere, dann kann ich auch nicht Impulse oder Kräfte annehmen, die außerhalb dieser Bedingungen stehen und auf ihn einwirken, dann werden Evgenij Kozlovs „empfangene Informationen“ zu einem reinen Fantasiegebilde, die sich ein sensibler Künstler erdichtet, wenn er der Autosuggestion unterliegt.



18.
Kunst ohne Geheimnis



Benjamin will die Begriffe des Schöpfertums, der Genialität, des Ewigkeitswertes  und des Geheimnisses abschaffen, weil ihre unkontrollierte Anwendung, wie er beklagt, dem Faschismus dient. Er könnte diese Begriffe weiterentwickeln, um ihre Anwendung zu klären. Diese Möglichkeit hat er aber nicht, da sie für den Materialismus substanzlos sind. Weil er aber doch nicht ohne sie zurechtkommt, nimmt er sie aus dem Künstler heraus und verlegt sie in die Dinge hinein. Er nimmt dem Menschen den Geist, dann muss er die Dinge vergeistigen, was aber vom materialistischen Standpunkt aus noch absurder ist. Nicht der Künstler ist ein Schöpfer, sondern das Kunstwerk hat eine Aura. Wodurch hat es denn seine Aura erhalten? Doch wohl durch den Künstler? Es ist bezeichnend, dass Benjamin die Aura mithilfe der Natur erläutert, weil er meint, dass er in diesem Fall auf den Schöpfer verzichten kann, andernfalls müsste er von der göttlichen Natur sprechen. Auch die anderen Begriffe finden wir in verwandelter Form wieder. Die Ewigkeit wird zur Ferne, das Geheimnis ist das Atmen der Aura, und von der Genialität bleibt uns immerhin ein Rest in der „genialen Führung des Objektivs“[105]. Er kann aber nicht zeigen, dass mit diesen Ersatzbegriffen Klarheit über den Ursprung der künstlerischen Handlung gewonnen ist.

Wenn im Kunstwerk die künstlerische Funktion „durch das absolute Gewicht, das auf seinem Ausstellungswert liegt“, zu einer „beiläufigen“ wird[106], so gilt das entsprechend für alle anderen Gebrauchswerte, die das Kunstwerk einnehmen kann, den wissenschaftlichen Wert, den propagandistischen. Die beiläufige Funktion ist aber genau die Aufgabe des Kunsthandwerks im weitesten Sinne, des Designs. Es ist der Slogan „form follows function“. Damit ist nichts gegen das Kunsthandwerk gesagt, nur sollte man dann begründen, wozu man den Begriff „Kunst“ zusätzlich benötigt.

Walter Benjamin meint gerade, er könne die Kunst vor ihrem Absinken in die Beiläufigkeit, vor ihrem Schicksal als Attribut der Ware für die Zukunft retten, indem er ihr eine noblere Aufgabe beiordnet: die Lösung des sozialen Problems. Er hofft, dass sie in diesem Bereich nicht nur eine beiläufige Funktion ausüben wird – dann, wenn der einzelne Mensch durch die neuen technischen Mittel der Kunst als Sachverständiger Zugang zur Autorschaft gewinnt. In Zukunft wird jeder Autor sein.

Wenn wir vergleichen, auf welche Weise Walter Benjamin sich vorstellt, was eintritt, wenn die Grenze zwischen Autor und Publikum fällt, wenn ein jeder Autor sein wird („der Lesende ist jederzeit bereit, ein Schreibender zu werden“[107]), und wie Evgenij Kozlov das Verschwinden der Trennlinie zwischen Künstler und Betrachter beschreibt, wenn ein jeder Künstler sein wird, so ergeben sich gravierende Unterschiede. Benjamins Autor wird Sachverständiger sein in Bezug auf den Arbeitsprozess, und wir haben gesehen, wie sich Benjamin einen Sachverständigen vorstellt: er muss angeleitet und kontrolliert werden, um sich massenkonform zu verhalten. Kozlovs Künstler der Zukunft soll sich verschieden von anderen Menschen entwickeln, gerade dazu wird die Kunst ein Mittel sein. Und dazu ist, wie Evgenij Kozlov sagt, innere und äußere Freiheit nötig.



19.
Die „geistige Schicht“ als außergeschichtliches Element des Kunstwerks



Die geschichtliche Betrachtung ist prinzipiell nicht in der Lage, ein Kunstwerk zu unterscheiden von einem Werk, welches kein Kunstwerk ist, außer anhand seines spezifischen Gebrauchs- oder Warencharakters. Hat es aber lediglich einen Gebrauchs- oder Warencharakter, so hat es keine selbständige Existenz. Walter Benjamin sieht sich daher gezwungen, dem Kunstwerk ein außergeschichtliches Element hinzuzufügen, die Aura. Er ist jedoch nicht in der Lage, etwas zur Genese dieser Aura zu sagen, sondern er kann sie nur mithilfe seiner Wahrnehmung konstatieren. Diese Wahrnehmung hat er jedoch gar nicht an einem Kunstwerk, sondern an einem Werk der Natur. Dann muss er die Aura in einem Analogschluss auf das Kunstwerk übertragen. Weil er aber das Kunstwerk als geschichtlichen Gegenstand betrachtet, muss er fürchten, dass die Aura im geschichtlichen Verlauf wieder verloren geht.

Der logische Widerspruch dieser Argumentation besteht darin, dass das außergeschichtliche Element für die Begründung der Kunst notwendig ist, aber selbst geschichtlich nicht begründet werden kann und daher wieder entfernt wird.

Die Formulierungen Evgenij Kozlovs geben eine Möglichkeit vor, wie das außergeschichtliche Element, Benjamins „Aura“, entwickelt werden kann: im Sinne von Kozlovs „geistiger Schicht“. Mit „geistiger Schicht“ ist hier gemeint, dass der Impuls, der das Kunstwerk trägt, und den das Kunstwerk trägt, uns innerhalb unserer zeitlichen Existenz berührt, während er uns aus der Zeit schon losreißt. Die geistige Schicht des Kunstwerks besitzt eine Dynamik, die uns in die Zukunft bewegt, oder noch richtiger ausgedrückt, die uns so erscheint, als ob sie sich aus der Zukunft auf uns zu bewegt. Indem uns das Kunstwerk über die Realität täuscht, bringt es etwas zum Vorschein, was noch nicht existiert. Als Schein der Realität, indem es sich beschränkter technischer Mittel bedient, erweckt es in uns die Vorstellung von der Potenz unserer geistigen Natur, die nach Harmonie strebt. Wenn wir aber die Vorstellung dieser Potenz besitzen, steht es uns frei, diese Potenz zu entwickeln.

Die technischen Mittel, mit denen das Kunstwerk gestaltet wird, sind für sich genommen sekundär, denn wenn der Mensch „diese innere Welt hat, wenn sie in ihm schon als Kraft existiert, kann er daraus gar nicht etwas Schlechtes machen“[108]. Das heißt aber, wenn man es richtig versteht, dass die technischen Mittel zwar sekundär sind, ihre Verwendung jedoch nicht beliebig, denn die Verwendung steht im Zusammenhang mit der Kraft der inneren Welt. Die Art und Weise, wie die technischen Mittel verwendet werden, also all das, was man mit dem Begriff des künstlerischen Stils zusammenfasst, gehört zur Erscheinungsweise der geistigen Kraft, soweit der Künstler sich selbst mit ihr verbunden hat. Denn der Künstler als Schöpfer ist nicht bloß Zeuge geistiger Welten, nicht nur ihr Medium oder ein technisches Mittel, mit Hilfe dessen sie sich zur Erscheinung bringen: er empfängt, was er schafft, aber er schafft auch, was er empfängt. In diesem Paradox entsteht die Kunst als innere Wahrnehmung und aus ihr das Kunstwerk als äußere Wahrnehmung.



20.
Kunst für die Gleichheit oder Kunst für die Freiheit



Man kann selbstverständlich in Abrede stellen, dass es reale Kräfte gibt, die „in das Innere des Menschen die dafür bestimmten Informationen eingeben[109], aber man sollte nicht meinen, dass man dann zu einem „fortschrittlichen“ Begriff der Kunst in Benjamins Sinn kommt. In Wirklichkeit kommt man zu gar keinem Begriff der Kunst, und das erklärt alle Widersprüche, in die sich Walter Benjamins mit seiner Argumentation verstrickt. Ungeachtet vieler im Einzelnen treffender Beobachtungen und überlegenswerter Feststellungen gelingt es ihm nur, die Vision einer Kunst zu entwickeln, deren wichtigste Aufgabe es sein wird, die Massen nach Anleitung zu mobilisieren. Das ist erschreckend. Im Grunde genommen sagt diese Vision nichts anderes aus, als dass er trotz aller Versuche, uns und sich selbst vom Gegenteil zu überzeugen, ein grenzenloses Misstrauen gegenüber den individuellen Fähigkeiten derjenigen Menschen empfindet, die nicht im intellektuellen Milieu zuhause sind. Walter Benjamin ist nicht der Auffassung, dass solche Menschen befähigt sind, sich ohne Kontrolle zu ihrem Wohl zu entwickeln. Von der Freiheit erwartet sich Benjamin nichts für die Masse, denn „Die Masse ist eine matrix“[110]. Die Masse ist im wörtlichen Sinne eine „Masse“, ein undifferenzierter Stoff, dem ein Stempel eingeprägt wird. Der Mensch soll durch die Kunst nicht zur Freiheit gelangen, sondern zur Gleichheit, unter Verzicht auf die Freiheit.

Welche sind aber dann die „Kräfte“, die den Menschen individualisieren, von denen im Gespräch mit Evgenij Kozlov die Rede ist? Es ist in der Tat so, dass über die Kräfte als solche nichts gesagt wird, sondern ihre Wirkung wird beschrieben. Diese Wirkung, die der Künstler wahrnimmt, lässt sich genauso wenig beweisen, wie man einer anderen Person beweisen kann, dass man hungrig ist, weil man längere Zeit nichts gegessen hat. Mann kann nur die Phänomene beschreiben, an denen sich der Hunger bemerkbar macht, also zum Beispiel ein Schwindelgefühl, allgemeine Schwäche etc. Die Gesamtheit dieser Phänomene macht den Hunger aus. Meine Wahrnehmung des Hungers ist somit eine subjektive und deshalb nicht beweisbar, aber seine objektive Existenz, das heißt die prinzipielle Wahrnehmbarkeit des Hungers durch andere Subjekte muss gegeben sein, sonst hat es keinen Sinn, von der Realität einer Wahrnehmung zu sprechen.

Das Beispiel des Hungers ist insofern trivial, als er eine Wahrnehmungstatsache für alle Menschen darstellt. Denn ein anderer Mensch kann zwar nicht meinen Hunger wahrnehmen, aber er kann seinen Hunger wahrnehmen, und er hat Erfahrungswerte dafür, wann und wie der Hunger eintritt. Wir kommen von den Sinneserfahrungen zum Begriff „Hunger“, der nun kein Privatbesitz mehr ist, da wir ihn mit dem anderen teilen.[111] Wir verbinden beide mit dem Hunger denselben Begriff. Der objektive Begriff des Hungers ist seine objektive Realität. Wären wir in der Lage, den Hunger eines anderen als eigenen Hunger zu erfahren, so benötigten wir keine Verständigung über den Begriff.

Wir teilen also nicht die momentane Erfahrung des anderen (wir sind nicht hungrig, weil er hungrig ist), sondern wir teilen mit dem anderen den Begriff, jedenfalls in genügend großem Umfang. „In genügend großem Umfang“ heißt, dass meine persönliche Erfahrung aufgrund einer Wahrnehmung (anders ausgedrückt, meine Vorstellung) dem Begriff eine individuelle Schattierung gibt, die aber die Verständigung über den Begriff nicht grundsätzlich stört. Wenn wir den Begriff haben, dann können wir uns eine Vorstellung davon machen, welche Wahrnehmung ein anderer hat. Und wir können dann wiederum unsere Vorstellungen, die mit dem Begriff verbunden sind, erweitern.[112]

(An dieser Stelle ein kleiner Einschub. Für den „Hunger“ ist es gerechtfertigt zu sagen, dass es jenseits des Begriffs keine objektive Wahrnehmung im Sinne einer gemeinsamen Wahrnehmung gibt. Das gilt aber nicht für alle Wahrnehmungen. Es ist durchaus nicht so, dass sich alle Wahrnehmungen, die andere Individuen haben, uns nur über den Begriff vermitteln. Bestimmte Gefühlsäußerungen wie Traurigkeit, Fröhlichkeit vermitteln sich ohne Begriffe; sie gehen direkt in das andere Subjekt über; dann verdrängt das Objektive (von außen Kommende) das eigene Subjektive und stellt sich an seinen Platz. Man spricht dann von Empathie. Allerdings müssen manche Menschen – Autisten – Empathie durch Begriffe ersetzen. Andererseits ist es eine interessante Überlegung, ob der Begriff nur eine vorübergehende Erscheinung ist, ob die „Ebene des inneren Gesprächs“ – die Verständigung mit anderen ohne äußere Formen, von der Evgenij Kozlov als der Kommunikationsform der Zukunft spricht – eine Art Sprechen ohne Begriffe sein wird. Bis zu einem solchen Zeitpunkt ist unsere Teilhabe am objektiven Begriff ein Schutz gegen direkte Eingriffe in unsere Individualität, in unser Subjekt. Ein Streit über Begriffe beweist ja nur, dass wir den Begriff in einer jeglichen sprachlichen Kommunikation als gemeinsamen voraussetzen – ein Streit ist ein Mangel an einer prinzipiell zu erreichenden Einigung –, und dass wir uns über die Schattierungen, die er durch unser individuelles Vorstellungsleben für das jeweilige Subjekt hat, nicht anders als wieder durch gemeinsame Begriffe verständigen. Wäre es nicht möglich, dass an einem Punkt der Entwicklung die Klarheit der Begriffe so offensichtlich und allgemein ist, das heißt, soweit die individuelle Vorstellung überwunden hat, wie das heute nur ansatzweise in der Mathematik der Fall ist, und dass dabei doch das menschliche Subjekt in seiner Individualität erhalten bliebe?)

Entsprechend beschreibt Evgenij Kozlov im Gespräch die Wirkungen, an denen er diese Kräfte erlebt, als reale Kräfte, die nicht nur in ihm, sondern auch in anderen wirksam sind beziehungsweise sein werden. Wir werden also, solange wir für diese Wahrnehmungen kein Organ haben, uns mithilfe des Begriffs der „Kraft“ verständigen – solange, bis sich nach den Worten Evgenij Kozlovs für uns die volle Realität in der Zukunft einstellt und wir eine eigene Anschauung der „Kraft“ erhalten. Wir erweitern unsere Vorstellung vom Begriff der „Kraft“ beziehungsweise der „Kräfte“ um die in den Aussagen beschriebene Wirkung. Die Wirkung dieser Kräfte ist „dieser innere Reichtum des Verlangens und dieses innere Verlangen wiederum nach Reichtum“[113]. Daraus entsteht die Kunst in der inneren Welt des Künstlers, und sie strebt nach einer Visualisierung, einer Umsetzung durch technische Mittel. Es ist nichts darüber ausgesagt, wie wir uns im Einzelnen die Entsprechung dessen, was der Künstler „empfangene Information“ nennt, mit dem Resultat, dem vollendeten Bildwerk, vorzustellen haben. Als Betrachter müssen wir uns mit dem Bildwerk begnügen, sofern der Ausdruck „begnügen“ hier angebracht ist. Wenn wir dem Inhalt der Ausführungen folgen wollen, so geht es aber in letzter Konsequenz gar nicht darum zu erforschen, auf welchem Wege ein Kunstwerk entstanden ist, sondern darum, was es in uns auslöst. Der Maßstab, den wir an das Kunstwerk anlegen, ist seine künstlerische Höhe – die Schöpfungshöhe, die wir bereits aus dem Urheberrecht kennen. Diese ist mit einem Zitat Kozlovs weiter oben im Text bereits so definiert worden, „dass in [das Meisterwerk] eine ungeheure Energie gelegt wurde, eine riesige Masse dieses – inneren Zustandes, so viel wie möglich, so dass eine große Anzahl von Menschen, jede Person, die es sieht, dank dieser großen Energie und dieser Masse des inneren Zustandes des Künstlers fähig ist, sich selbst maximal weiterzubewegen“[114].

Die ethische Komponente dieser Definition ist kaum hoch genug einzuschätzen. Es handelt sich um nichts anderes als eine Entwicklung des Menschen, die ihn in die Lage versetzt, „dank dieser großen Energie und dieser Masse des inneren Zustandes des Künstlers [...] sich selbst maximal weiterzubewegen“, mit anderen Worten, die Kriterien für sein Handeln aus sich selbst heraus zu bestimmen. Der von Walter Benjamin kritisierte „Schönheitsdienst als säkularisiertes Ritual“[115], welcher aus der „Idee einer ‚reinen Kunst‘ hervorgegangen“ sei, die „jede soziale Funktion [...] ablehnt“[116], wird zum höchsten Dienst am Menschen, indem er im Bild eine Harmonie, eine Ästhetik, einen „schönen Schein“ erzeugt, der den Menschen veranlasst, sein eigenes Handeln zu einem ästhetischen zu machen – aber eben nicht nach einem vorgegebenen Kanon, sondern frei, nach individueller Maßgabe. Denn der bewusste Mensch soll keine Harmonie „an sich“ erreichen, die irgendwie aus der „Idee der Harmonie“ hervorginge und ihm damit ein bestimmtes Verhalten aufzwänge. Das Leben lässt keine vollkommene Harmonie zu, denn vollkommene Harmonie würde das Leben zum Stillstand bringen.[117] Er kann aber eine jeweilige, mehr oder weniger vollkommene Harmonie erreichen, die dann eben seine Tat ist und als solche dem Welteninhalt eine Bestimmung gibt.

Dies überschreitet die traditionelle Verwendung des Begriffes der Schönheit als einer lokalen Wahrnehmung („Schönheit an etwas“) und führt in den Bereich des „richtigen Handelns“ im Sinne Platons, jedoch nicht aus einer Pflicht heraus wie bei Kant, sondern aus der Liebe heraus wie bei Schiller. Nicht zufällig sind Kozlovs sieben Gemälde des Zyklus’ „Die neue Klassik“, der im Gespräch über die „Kunst der Zukunft“ erwähnt wird, dem Thema der Liebe gewidmet: „Die Liebe zur Frau“, „Die Liebe zum Mann“, „Die Liebe zum Kosmos“, „Die Liebe zum Wunderschönen“, „Die Liebe zur Erde“, „Die Liebe zur Arbeit“ und das nicht ausgeführte „Die Liebe zu Gott“. Wir kommen auf diese Weise zu einem „erweiterten Kunstbegriff“ als Möglichkeit des menschlichen Handelns. Wir kommen von der Schönheit „an etwas“ zur Harmonie „von etwas“, und es wäre interessant, an anderer Stelle die Parallelen zur Gedankenwelt von Joseph Beuys aufzusuchen, dessen Wirken allerdings in direkter Weise die eines Lehrenden war, der die Öffentlichkeit aufsuchte, während Evgenij Kozlov allein durch seine Bilder spricht. Aus diesem Grund ist die soziale Komponente seiner schöpferischen Tätigkeit weniger offensichtlich.

Die Erfahrung, die Walter Benjamin mit dem Menschen als sozialem Wesen gemacht hat, scheint dagegen zu sprechen, dass es dem Individuum selbst überlassen werden kann, sein bewusstes Handeln vermittels eines persönlichen Begriffs der Harmonie zu entwickeln. Vielleicht besteht er deshalb darauf, dass die Aufgaben nach Anleitung der taktilen Rezeption, durch Gewöhnung, bewältigt werden[118]. Damit fällt er nicht nur hinter Kant zurück, der immerhin die individuelle Stimme der Pflicht zum Kriterium für das ethische Handeln machte, sondern sogar noch hinter die biblischen Gebote, die doch dem Einzelnen die Möglichkeit gaben, nicht aus Gewohnheit zu handeln, sondern sich im Gewissenskonflikt für oder gegen die Einhaltung der Gebote zu entscheiden. Walter Benjamin will ganz bestimmt das Gute, nur glaubt er eben, als Autorität für die anderen bestimmen zu können, wie das Gute zu erreichen ist: er will Erziehung, nicht Selbstbildung. Weil er sich nicht sicher ist, dass er auch als Autorität anerkannt wird, wird die Erziehung noch nicht einmal offen angekündigt, sondern erfolgt „unter der Hand“. In dieser ganz und gar paternalistischen Einstellung kann ich aber keinen Fortschritt in der moralischen Entwicklung des Menschen als Individuum erkennen.

Allerdings scheint es auf den ersten Blick tatsächlich nicht einsehbar, dass die Entwicklung der Menschen zu einer Verschiedenartigkeit eine soziale Gemeinschaft begründen soll. Daher ist Walter Benjamin (und der Anhänger einer jeglichen Art von Totalitarismus) bereit, die Freiheit für die Gleichheit zu opfern – wohlgemerkt, die Freiheit der anderen. Dass aus der Freiheit erst das richtige Verständnis für den Menschen als eigenständige Persönlichkeit entstehen kann, was eine wesentliche Grundlage für den sozialen Gedanken bildet, dafür fehlt Benjamin das Vorstellungsvermögen. Es fehlt das Vertrauen in den Menschen, dass dieser mit dem Wachstum seiner individuellen Kräfte in der Lage und Willens ist, die soziale Ordnung produktiv zu gestalten. Und es fehlt das Verständnis dafür, dass diese individuellen Kräfte zuerst als „Kunst der Zukunft“ aus seelischen Impulsen heraus entstehen.

Das kann aber auch nur erreicht werden, wenn wir dem „Bild“ im Verhältnis zum „Abbild“ eine eigene Qualität zusprechen. Weiter oben in Text habe ich geschrieben: „Wenn das Werk eine solche geistige Schicht „besitzt“, dann schiebt sich zwischen Urbild und Abbild das Bild. [...] Der „Schein“, diese „geistige Schicht“, wird dadurch zum Keim von etwas Neuen, und das Bild wird selbst zum Urbild.“ Es kann vom schöpferischen Menschen aufgegriffen und weiterentwickelt werden.

Diese Tatsache ist nicht als solche bemerkenswert. Wir können davon ausgehen, dass Walter Benjamins „Aura“, Evgenij Kozlovs „geistige Schicht“ des Bildes schon immer die Voraussetzung dafür waren, dass ein Gemälde außer allen materiellen Gebrauchswerten in größerem oder geringerem Maße diesen „seelischen Gebrauchswert“ besitzt. Der Begriff der „geistigen Schicht“ hat allerdings gegenüber der „Aura“ den erheblichen Vorzug, dass er nicht aus einer Naturtatsache übertragen werden muss, sondern direkt aus der Schöpfungskraft des Menschen resultiert.

Ausschlaggebend ist aber, dass es nun möglich ist, mit dem Begriff der „geistigen Schicht“ diesen „seelischen Gebrauchswert“ für den Betrachter ins Bewusstsein zu heben und ihn als die eigentliche Aufgabe des Bildes zu formulieren. Dann ist die Rezeption eines Gemäldes keine Frage seiner Gebrauchsfunktion und auch keine Frage der Stilepoche. Diese beiden Parameter sind lediglich notwendige Abgrenzungen in Hinsicht auf ein geschichtliches Verständnis des Gemäldes, auf die Wandlungen und Entwicklungen der künstlerischen Möglichkeiten.

Zu diesem geschichtlichen Verständnis gesellt sich mit der „geistigen Schicht“ ein Impuls, der sich nicht geschichtlich fassen lässt, weil er sich beim Betrachten jedes Mal neu und anders einstellt. Ein solcher Impuls kann aber – wenn der Künstler in der Lage ist, eine neue Harmonie zu schaffen – eine Erkenntnis vermitteln, die für die Zukunft in moralischer Hinsicht Bedeutung hat, weil die Harmonie inspiriert. Man wird dann einmal von einem „klugen“ Bild sprechen, genauso wie man heute von einem „weisen“ Menschen spricht. In einem klugen Bild liegt der Impuls zu einem sozialen Handeln, nicht die Anleitung zu einem solchen. Es ist ein Handeln aus dem freien Willen, aus der Liebe zur Harmonie.

Woher stammt diese Liebe zur Harmonie?

Es ist das Verlangen, dass die Welt mehr sein möge, als sie zeigt, wenn man weiß, dass sie mehr ist, als sie zeigt. Das, was Evgenij Kozlov den „inneren Zustand“ nennt, ist bereits angefüllt mit dem Potential, das die Zukunft bereithält:

„Bisher weiß ich nur eins, dass die Schaffung eines echten Kunstwerks – so, dass es dem Zuschauer sichtbar und verständlich wird, nur dann möglich ist, wenn man zuerst den Zustand erreicht, der sich „die Kunst der Zukunft“ nennt. Eben dieser innere Reichtum des Verlangens und dieses innere Verlangen wiederum nach Reichtum.“[119]

Hannelore Fobo, 2009 / 2014

art.tomorrow@t-online.de                       www.e-e.eu/Bild-und-Abbild

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[1] Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Erste Abteilung: Kritische Neuausgabe, Band 2, München, Paderborn, Wien, Zürich 1967, S. 261. Erstdruck in: Athenäum (Berlin), 3. Bd., 1. Stück, 1798.

http://www.zeno.org/nid/20005618916, Anmerkung [62].

[2] Berghahn, Klaus L. (Hrsg.)/ Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Stuttgart: Reclam, 2000.

[3] „Die Kunst der Zukunft“, Evgenij Kozlov und Hannelore Fobo im Gespräch, 1991. http://www.e-e.eu/Texte/Kunst-1.htm. Die Zitate sind aus dem Russischen frei übersetzt.

[4] In französischer Sprache; deutsch 1955. Walter Benjamin, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1. Aufl. 1963.

[5] Kunst der Zukunft, a. a. O., http://www.e-e.eu/Texte/Kunst-1.htm.

[6] Benjamin, Kunstwerk, a. a. O., S. 9. Im Vorwort zum ersten Band des Kapitals spricht Karl Marx von der „materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen“. In diesem Sinne der materiellen Gegebenheiten des Produktionsprozesses verwendet Walter Benjamin den Begriff der Produktionsbedingungen. Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 9. Siehe auch http://www.mlwerke.de/me/me13/me13_007.htm.

[7] Insbesondere stört Walter Benjamin, dass, wie er meint, die Kontemplation den Betrachter nur in die Spur bereits vorhandener Gedanken bringt: „Man vergleiche die Leinwand, auf der der Film abrollt, mit der Leinwand, auf der sich das Gemälde befindet. Das letztere lädt den Betrachter zur Kontemplation ein; vor ihm kann er sich seinem Assoziationsablauf überlassen. Vor der Filmaufnahme kann er das nicht. Kaum hat er sie ins Auge gefaßt, so hat sie sich schon verändert. Sie kann nicht fixiert werden. [...] Darauf beruht die Chockwirkung des Films, die wie jede Chockwirkung durch gesteigerte Geistesgegenwart aufgefangen sein will.“ Benjamin, Kunstwerk, S. 38 / 39.

[8] Dabei übersieht man, dass auch ein solcher Wort-Gedanke nicht die Sache selbst ist, sondern ein in geringerem oder größerem Umfang von individuellen Vorstellungen durchsetztes Bild dieser Sache. Unter Umständen noch nicht einmal ein besonders originelles Bild, jedenfalls ein Bild von anderer Qualität als das Gemälde. Dass der reflektierende Gedanke ein Bild ist, beweist allein schon die Tatsache, dass er von verschiedenen Menschen verschieden gedacht wird. Wäre der Gedanke die Sache selbst und nicht ein Bild von ihr, so gäbe es in der Welt keine verschiedenen Meinungen. Die Darstellung des „Gedankens über etwas“ in der Kunst ist die Illustration eines Bildes.

[9] Die „Arbeit“ ersetzt gewissermaßen das „Werk“, das wohl zu feierlich, anspruchsvoll und pompös klingt – vielleicht deswegen, weil es den Verlaufscharakter nie ganz abgelegt hat, wie man am Begriff „Tagwerk“ sieht. Dadurch hat das „Werk“ sehr viel mehr Innerlichkeit als die „Arbeit“. Interessant ist, dass dieser Ersatz (vorerst) nur für bildende Kunst gilt, nicht aber für andere Kunstgattungen wie Musik, Theater, Architektur. Siehe auch Fußnote 18 zu Martin Heidegger.

Eine knappe Zusammenfassung zur Semantik und Etymologie von „Werk“ und „Arbeit“ findet man im Artikel von Brigitte Weingart. http://www.ethikprojekte.ch/texte/arbeit.htm.

[10] Benjamin, Kunstwerk, a. a. O., S. 13.

[11] Die Vorlage als solche behandelt er im „Kunstwerk“ nicht.

[12] Benjamin, Kunstwerk, a. a. O., S. 41.

[13] der „Basis“, der Gesamtheit der Produktionsverhältnisse. Seinen marxistischen Standpunkt betont Benjamin insbesondere im Vorwort zum „Kunstwerk“ auf Seite 9, wo er als sein Anliegen vorstellt: die „Formulierung revolutionärer Forderungen in der Kunstpolitik“.

[14] So ist der Begriff der Produktionsverhältnisse als wirkende Kraft sinnvoll erst zu gebrauchen, wo der Mensch in der Entwicklungsreihe der Lebewesen „plötzlich“ auftritt; diese Kraft tritt dann ebenso plötzlich auf gemeinsam mit ihrem materiellen Träger, der menschlichen Gemeinschaft.

[15] Heidegger, Martin, „Der Ursprung des Kunstwerks“, Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1960, S. 5.

Erste Fassung im Vortrag vom 13. November 1935 in der Kunstwissenschaftlichen Gesellschaft zu Freiburg i. Breisgau, überarbeitet 1936, zuerst veröffentlicht im Sammelband „Holzwege“ 1950.

[16] So wird denn endlich dies eine klar: Wir mögen dem Insichstehen des Werkes noch so eifrig nachfragen, wir verfehlen gleichwohl seine Wirklichkeit, solange wir uns nicht dazu verstehen, das Werk als ein Gewirktes zu nehmen. Es so zu nehmen, liegt am nächsten; denn im Wort Werk hören wir das Gewirkte. Das Werkhafte des Werkes besteht in seinem Geschaffensein durch den Künstler.“ Vgl. ebd., S. 57.

[17] Wörterbuchnetz - Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Eintrag „wirklich“ Punkt 1) http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle=DWB&mode=Vernetzung&hitlist=&patternlist=&lemid=GW23548.

[18] Martin Heidegger nimmt den Begriff der Wirklichkeit in Bezug auf das Werk allein dinglich und nicht wirkend: „Allein das jetzt sichtbare Werksein des Werkes sagt uns immer noch nichts über die nächste und aufdringliche Wirklichkeit des Werkes, über das Dinghafte am Werk.“ (Heidegger, Ursprung, S. 55). Wirkungen können nur auf bereits Existentes gehen, und eine solche Wirkung gilt für das Werk seiner Meinung nach gerade nicht: „Dabei ist das Seltsame, dass das Werk in keiner Weise auf das bisherige Seiende durch kausale Wirkungszusammenhänge einwirkt. Die Wirkung eines Werkes besteht nicht in einem Wirken. Sie beruht in einem aus dem Werk geschehenen Wandel der Unverborgenheit des Seienden und das sagt: des Seins.“ (Ebd., S. 74) Kunst setzt ja jeweils einen Anfang: „Immer wenn Kunst geschieht, d. h., wenn ein Anfang ist, kommt in die Geschichte ein Stoß, fängt Geschichte erst oder wieder an.“ (Ebd., S. 79) Daher redet Heidegger nicht von der Wirkung der Kunst, sondern von der „Stiftung der Wahrheit [...] im Sinne dieses grund-legenden Gründens“. (Ebd., S. 78) Hier wäre allerdings zu unterscheiden zwischen dem Anfang, den das Kunstwerk setzt, der also selbst keine Wirkung von etwas Bestehendem ist (im Sinne von Heideggers Gründen, und der Wirkung, die das Kunstwerk auf das Bestehende ausübt, die gewissermaßen eine Weiterwirkung ist.)

[19] Benjamin, Kunstwerk, a. a. O., S. 16.

[20] Kunst der Zukunft, a. a. O., http://www.e-e.eu/Texte/Kunst-1.htm.

[21] http://www.e-e.eu/Texte/Kunst-2.htm.

[22] Die Lebendigkeit der Erfahrung führt zu einer inneren Bewegung. Man kann diese Möglichkeit für die Malerei verneinen und ihr generell diese Fähigkeit absprechen, so wie das Walter Benjamin tut, wenn er von der „bloßen Optik“ spricht. Wenn man aber einen Ausweg darin sieht, sich der Bewegung mithilfe des Gedankens zuzuwenden, indem man nachdenkt über das, was sich bewegt und das Ergebnis des Nachdenkens möglichst unmittelbar darstellt, beispielsweise im Film, beispielsweise auf Papier als rhythmische Bewegung in einer Art Notenschrift wie Hanne Darboven, so sollte man sich nicht darauf verlassen, dass ein solcher Wort-Gedanke notwendig zu einer lebendigen Erfahrung verhilft.

[23] Kunst der Zukunft, a. a. O., http://www.e-e.eu/Texte/Kunst-2.htm.

[24] Kunst der Zukunft, a. a. O., http://www.e-e.eu/Texte/Kunst-2.htm.

[25] Kunst der Zukunft, a. a. O., http://www.e-e.eu/Texte/Kunst-3.htm.

[26] Benjamin, Kunstwerk, a. a. O., S. 31.

[27] Vgl. ebd., S. 35. Unterstrichener Satzteil im Original kursiv.

[28] Vgl. ebd., S. 40.

[29] Kunst der Zukunft, a. a. O., http://www.e-e.eu/Texte/Kunst-2.htm.

[30] Kunst der Zukunft, a. a. O., http://www.e-e.eu/Texte/Kunst-3.htm.

[31] Kunst der Zukunft, a. a. O., http://www.e-e.eu/Texte/Kunst-2.htm.

[32] „Da im übrigen für den Einzelnen die Versuchung besteht, sich solchen Aufgaben zu entziehen, so wird die Kunst die schwerste und wichtigste da aufgreifen, wo sie Massen mobilisieren kann.“ Benjamin, Kunstwerk, a. a. O., S. 41.

[33] Vgl. ebd., S. 17.

[34] Vgl. ebd., S. 22.

[35] Vgl. ebd., S. 9.

[36] Kunst der Zukunft, a. a. O., http://www.e-e.eu/Texte/Kunst-3.htm.

[37] Vgl. ebd.

[38] Siehe Fußnote 2.

[39] Johann Wolfgang Goethe, „Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke“ (1798), in: Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. 40 Bde. Stuttgart, Tübingen: J. G. Cotta 1827–30, Band 38, S. 143. https://books.google.de/books?id=OdU9vepxMgMC&hl=de.

[40] Johann Wolfgang von Goethe, Poetische Werke. Vollständige Ausgabe. Band 2: West-Östlicher Divan - Epen - Maximen und Reflexionen. Hrsg. v. Liselotte Lohrer. 1950, S. 677.

https://books.google.de/books?id=WHDfAAAAMAAJ&hl=de.

[42] Abgedruckt im »Tiefurter Journal« 32. Stück, 1782 (nach anderen Angaben 1783 bzw 1784)

Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Hamburg 1948 ff., Band 13, S. 44.

http://www.zeno.org/nid/2000485621X.

[43] Der ästhetische Gehalt, der sich aus der Visualisierung solcher Prinzipien ergibt, wenn wir etwa an Objekte der fraktalen Geometrie denken, besitzt den künstlerischen Wert der Illustration. Der wissenschaftliche Ansatz führt in der Kunst zum Konzeptualismus und zur Dekonstruktion.

[44] Aristoteles, Poetik 1451a36. Φανερὸν δὲ ἐκ τῶν εἰρημένων καὶ ὅτι οὐ τὸ τὰ γενόμενα λέγειν, τοῦτο ποιητοῦ ἔργον ἐστίν, ἀλλ᾽ οἷα ἂν γένοιτο καὶ τὰ δυνατὰ κατὰ τὸ εἰκὸς ἢ τὸ ἀναγκαῖον.

„Aus dem Gesagten erhellt, dass nicht Erzählung des Geschehenen Aufgabe des Dichters ist, sondern Erzählung der Begebenheiten, wie sie geschehen sein könnten, und des Möglichen nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit.“

http://www.gottwein.de/Grie/aristot/aristpoet09.php.

[45] Johann Wolfgang Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, Vierter Teil, Achtzehntes Buch, in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hamburg 1948 ff. Band 10, S. 127.

http://www.zeno.org/nid/20004859588.

[46] Johann Wolfgang Goethe: Winckelmann. Siehe Kapitel „Schönheit“. Erstdruck in: Winckelmann und sein Jahrhundert. In Briefen und Aufsätzen, hg. v. Goethe. Tübingen (Cotta) 1805. Zitiert nach: Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Herausgegeben von Siegfried Seidel, Berlin 1960 ff., Bd. 19, S. 485 ff., http://www.zeno.org/nid/20004855981.

[47] Siehe auch: Rudolf Steiner, „Goethe als Ästhetiker“: „In der Natur treten uns die Gegenstände eben nie so entgegen, wie sie ihrer Idee entsprechen, sondern gehemmt, beeinflusst von allen Seiten von Kräften, die mit dem Keime im Innern derselben nichts zu tun haben.“ Aus: Rudolf Steiner, „Goethe-Studien. Schriften und Aufsätze 1884-1901“, Dornach, Rudolf Steiner Verlag, 1982, S. 24. 

[48] Kunst der Zukunft, a. a. O., http://www.e-e.eu/Texte/Kunst-3.htm.

[51] Benjamin, Kunstwerk, a. a. O., S. 17.

[52] Vgl. ebd., S. 27.

[53] Siehe Fußnote 5.

[54] „Indem das Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit die Kunst von ihrem kultischen Fundament löste, erlosch auf immer der Schein ihrer Autonomie.“ Vgl. ebd., S. 22.

[55] Vgl. ebd., S. 30.

[56] Vgl. ebd., S. 28.

[57] Vgl. ebd., S. 28.

[58] Vgl. ebd., S. 28.

[59] Vgl. ebd., S. 15. Im Original kursiv.

[60] Vgl. ebd., S. 17.

[61] Vgl. ebd., S. 15.

[62] Vgl. ebd., S. 13.

[63] Vgl. ebd., S. 13.

[64] In Bezug auf Walter Benjamin entsprechend: gerade nicht die geschichtlichen Zeitumstände so abzubilden, dass sie Rückschlüsse auf sein Eingebettetsein in die Tradition erlauben.

[65] Im Jahre 754. Siehe Torsten Krannich: Die ikonoklastische Synode von Hiereia 754, 2002, S. 13.

[66] Die deutschen Übersetzungen in diesem Abschnitt nach Denzinger/Hünermann 600f., so zitiert auf der Website des Amtes für die Liturgischen Feiern des Papstes im Kapitel III. Das Zweite Konzil von Nikäa.

http://www.vatican.va/news_services/liturgy/2005/documents/ns_lit_doc_20050120_marini_ge.html

Der griechische Originaltext lautet „τήν κατά πίστιν ἡμῶν ἀληθινήν λατρείαν, ἥ πρέπει μόνῃ τῇ θείᾳ φύσει“.

Diese und die folgenden Stellen siehe http://www.apostoliki-diakonia.gr/gr_main/catehism/theologia_zoi/themata.asp?cat=hist&NF=1&main=texts&file=30.htm.

[67] „τῆς τε τοῦ κυρίου καί Θεοῦ καί σωτῆρος ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ εἰκόνος, καί τῆς ἀχράντου δεσποίνης ἡμῶν ἁγίας Θεοτόκου, τιμίων τε ἀγγέλων, καί πάντων ἁγίων καί ὀσίων ἀνδρῶν.“

s.o.

[68] Ἀλλ' ὅν τρόπον τῷ τύπῳ τοῦ τιμίου καί ζωοποιοῦ σταυροῦ καί τοῖς ἁγίοις εὐαγγελίοις καί τοῖς λοιποῖς ἱεροῖς ἀναθήμασι, καί θυμιασμάτων καί φώτων προσαγωγήν πρός τήν τούτων τιμήν ποιεῖσθαι, καθώς καί τοῖς ἀρχαίοις εὐσεβῶς εἴθισται.“

s.o.

[69] „Ἡ γάρ τῆς εἰκόνος τιμή ἐπί τό πρωτότυπον διαβαίνει καί ὁ προσκυνῶν τήν εἰκόνα, προσκυνεῖ ἐν αὐτῇ τοῦ ἐγγραφομένου τήν ὑπόστασιν.“

s.o.

[70] Für eine komplexe Analyse des Begriffs hypóstasis http://biblehub.com/greek/5287.htm.

[71] Pavel Florenskij, „Die Ikonostase. Urbild und Grenzerlebnis im revolutionären Rußland.“ Einführung und Übersetzung von Ulrich Werner, 1988.

[72] Vgl. ebd., S. 75.

[73] Vgl. ebd., S. 75 ff.

[74] Vgl. ebd., S. 77. Der Übersetzer hat hier den Begriff „Darstellung“ gewählt, wohl zur Verdeutlichung. Das russische „изображение“ wird gewöhnlich mit „Abbild“ oder sogar mit „Bild“ übersetzt. Florenskij hat es in Anführungszeichen gesetzt.

[75] Vgl. ebd., S. 77.

[76] καί οἱ ταύτας θεώμενοι διανίστανται πρός τήν τῶν πρωτοτύπων μνήμην τε καί ἐπιπόθησιν / diejenigen, die diese betrachten, [werden] emporgerichtet zur Erinnerung an die Urbilder und zur Sehnsucht nach ihnen. Quellen siehe Fußnote 66.

[77] Vgl. ebd., S. 79 ff. Unterstrichenes Wort im Original kursiv.

[78] Vgl. ebd., S. 78.

[79] Vgl. ebd., S. 78.

[80] Aber nicht ihr habt diese Bilder geschaffen, nicht ihr habt diese lebendigen Ideen unseren erfreuten Augen zur Erscheinung gebracht – sie selbst haben sich unserem Schauen gezeigt; ihr aber habt lediglich die Hindernisse beseitigt, die uns ihr Licht verhüllen.“ Vgl. ebd., S. 76.

[81] Der Ikonenmaler hat Sie [die reinste Jungfrau] mir gezeigt, ja, aber er hat Sie nicht geschaffen; er hat den Vorhang geöffnet, und Sie, die hinter dem Vorhang ist, steht als objektive Realität nicht nur vor mir, sondern eben auch vor ihm, von ihm wird sie entdeckt, ihm erscheint sie, aber sie ist nicht von ihm durchdacht, und sei es in einem Anflug höchster Inspiration.“ Vgl. ebd., S. 76 ff.

[82] Vgl. ebd., S. 75.

[83] Vgl. ebd., S. 76. Unterstrichenes Wort im Original kursiv.

[84] Vgl. ebd., S. 81.

[85] Vgl. ebd., S. 81. Unterstrichene Begriffe im Original kursiv.

[86] Vgl. ebd., S. 100.

[87] Vgl. ebd., S. 100 / 101.

[88] Die „objektive Realität“ bei Florenskij ähnelt der „Wahrheit“ als Gegenstand der Kunst bei Heidegger, wenn er sagt, „Das Kunstwerk eröffnet auf seine Weise das Sein des Seienden. Im Werk geschieht diese Eröffnung, d. h. das Entbergen, d. h. die Wahrheit des Seienden.“ (Heidegger, Ursprung, a. a. O., S. 34.) Während jedoch bei Pavel Florenskij die objektive Realität – die geistig wirkende Realität, die übersinnlichen Ideen – stofflich markiert wird, wird bei Martin Heidegger die Wahrheit als Gründungsakt einer bisher „vorenthaltene[n] Bestimmung des geschichtlichen Daseins selbst“ gestiftet. Vgl. ebd., S. 78.

[89] Florenskij, S. 82.

[90] Vgl. ebd., S. 87 ff.

[91] Goethe nennt die „Steigerung“ eine der beiden Triebkräfte der Natur; die andere ist die Polarität. Er erläutert beide im Brief vom 24. Mai 1828 an den Kanzler von Müller, in welchem er auf das Fragment „Die Natur“ Bezug (siehe Fußnote 42) nimmt:

„Die Erfüllung aber, die ihm fehlt, ist die Anschauung der zwei großen Triebräder aller Natur: der Begriff von Polarität und von Steigerung, jene der Materie, insofern wir sie materiell, diese ihr dagegen, insofern wir sie geistig denken, angehörig; jene ist in immerwährendem Anziehen und Abstoßen, diese in immerstrebendem Aufsteigen. Weil aber die Materie nie ohne Geist, der Geist nie ohne Materie existiert und wirksam sein kann, so vermag auch die Materie sich zu steigern, so wie sichs der Geist nicht nehmen läßt, anzuziehen und abzustoßen; wie derjenige nur allein zu denken vermag, der genugsam getrennt hat, um zu verbinden, genugsam verbunden hat, um wieder trennen zu mögen.“ Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hamburg 1948 ff., Band 13, S. 47.

http://www.zeno.org/nid/2000485621X.

[93] Florenskij sagt: „In den Abbildungen der Ikonenmaler sehen wir selbst – sogar wir selbst – die ganadenvollen und durchlichteten Antlitze der Heiligen, in ihnen aber, in diesen Antlitzen, das zur Erscheinung gebrachte Bild Gottes und Gott selbst“ (Florenskij, Ikonostase, S. 77/78). Im Vergleich dazu Evgenij Kozlovs „Portrait von Timur Novikov mit Knochenarmen“ [„Портрет Тимура Новикова с костяными руками“] von 1988, das in Komposition und Ausdruck deutliche Anklänge an die klassische Ikone aufweist, insbesondere an die bekannte Christusikone aus dem Katharinenkloster im Sinai. Diese zeigen sich in der Körperhaltung, im Blick (das eine Auge schaut nach oben, das andere nach unten), im Halbkreis des Pavillons, der mit dem Heiligenschein der Ikone korrespondiert, in der Haltung der linken (roten) Hand mit dem Buch, im Relief der Buchseiten, in den Kreuzen des Laubengitters, die mit dem Kreuz auf der Bibel in Bezug stehen und nicht zuletzt im Hintergrund (Architektur, Landschaft). Zu diesem Portrait äußerst sich der Künstler wie folgt: Allerdings unterliegt man schon dem ersten Irrtum, wenn man meint, dass es mir um die Abbildung eines existierenden Menschen ging. [...] Wenn man mein Portrait von Timur Novikov aus dem Jahre 1988 betrachtet, so sieht man nicht Timur, sondern den Zustand, in den Timur letztendlich gelangte.“

http://www.e-e.eu/E-E/New_artists/Die_Neuen_Kuenstler_4.htm.

Mehr zum „Portrait von Timur Novikov mit Knochenarmen“ http://www.e-e.eu/art/88/88c.htm

[94] Der Impressionismus beispielsweise findet keine neuen Sujets, sondern einen neuen Stil, und auch ein solch innovativer Künstler wie Pablo Picasso findet keine neuen Sujets. Erst Kasimir Malevich findet 1915 mit dem Schwarzen Quadrat („Schwarzes Quadrat auf weißem Grund“) einen radikal neuen Bildinhalt; es ist der Versuch der bewussten Überführung des Bildes in die Bildlosigkeit, das heißt in die reine Bewegung. Das schwarze Quadrat ist immer noch Bild, aber Bild der Antimaterie, des Geistes als Schöpfer und Vernichter der Materie. Das schwarze Quadrat ist in seiner Radikalität nicht steigerbar und auch nicht wiederholbar. Nicht steigerbar, denn eine Steigerung könnte nur ein Verzicht auf ein jegliches Bild sein. Nicht wiederholbar, weil es Beginn und gleichzeitig Endpunkt dieser Form von Bildlichkeit ist.

[95] Benjamin, Kunstwerk, a. a. O. S., 15. Diese Formulierung findet sich bereits in Walter Benjamins Aufsatz „Kleine Geschichte der Photographie“ aus dem Jahre 1931, siehe Benjamin, Kunstwerk, S. 57.

[96] Kunst der Zukunft, a. a. O., http://www.e-e.eu/Texte/Kunst-3.htm.

[100] Benjamin, Das Kunstwerk, a. a. O., S. 40.

[101] Vgl. ebd., S. 41.

[102] Vgl. ebd., S. 41.

[103] Kunst der Zukunft, a. a. O., http://www.e-e.eu/Texte/Kunst-3.htm.

[104] Kunst der Zukunft, a. a. O., http://www.e-e.eu/Texte/Kunst-2.htm.

[105] Benjamin, Kunstwerk, a. a. O., S. 35.

[106] Vgl. ebd., S. 20.

[107] Vgl. ebd., S. 29.

[108] Kunst der Zukunft, a. a. O., http://www.e-e.eu/Texte/Kunst-4.htm.

[109] Kunst der Zukunft, a. a. O., http://www.e-e.eu/Texte/Kunst-2.htm.

[110] Benjamin, Kunstwerk, a. a. O., S. 39.

[111] Genauer gesagt kommen wir zunächst zum Begriff der Wirkung, wir verspüren bestimmte Wirkungen, die wir einer Ursache zuordnen (Hunger), wie der Arzt über die Symptome zur Diagnose kommt. Doch läuft dieser Zwischenschritt so schnell ab, dass wir ihn meistens übersehen.

[112] Ich orientiere mich hier an der Verwendung von „Wahrnehmung“, „Vorstellung“ „Begriff“ bei Rudolf Steiner in „Die Philosophie der Freiheit“, 1894, Rudolf Steiner Verlag, Dornach, 1962, 15. Auflage 1987. Auf Seite 107 heißt es „Die Vorstellung ist also ein individualisierter Begriff. [...] Der Begriff erhält durch eine Wahrnehmung eine individuelle Gestalt, einen Bezug zu dieser bestimmten Wahrnehmung. In dieser individuellen Gestalt, die den Bezug auf die Wahrnehmung als eine Eigentümlichkeit in sich trägt, lebt er in uns fort und bildet die Vorstellung des betreffenden Dinges.“ Unterstrichener Begriff im Originaltext kursiv.

[113] Kunst der Zukunft, a. a. O., http://www.e-e.eu/Texte/Kunst-1.htm.

[115] Benjamin, Kunstwerk, a. a. O., S. 16.

[116] Vgl. ebd. ,S. 17.

[117] Nicht zufällig enden Märchen an dem Punkt, wo die Harmonie der Dinge wieder hergestellt worden ist.

[118] Benjamin, Kunstwerk, a. a. O., S. 41. Im Originaltext kursiv.

[119] Kunst der Zukunft, a. a. O., http://www.e-e.eu/Texte/Kunst-1.htm.

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